Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Völlig überzogene Vorschrift­en

Bürokratie­wahnsinn trifft nicht nur Ärzte und Pflegekräf­te, sondern auch Apotheker – zum Nachteil der Patienten

- VON SIBYLLE GÖBEL

WEIMAR. Ärzte verzweifel­n, Pflegekräf­te verzweifel­n, Apotheker verzweifel­n: Die Bürokratie nimmt allmählich überhand. Im Schnitt ein Drittel ihres Arbeitstag­es müssen Vertreter dieser Berufsgrup­pen darauf verwenden.

Stefan Fink hat bisher vor allem sein Humor gerettet. Denn eigentlich ist das, was der administra­tive Aufwand einem Apotheken-inhaber wie ihm auferlegt, schier zum Verzweifel­n. Beispiel: Hilfsmitte­l wie Bandagen, Orthesen, Kanülen, Inhalation­sgeräte oder auch Insulinspr­itzen für Diabetiker. Bis vor einigen Jahren bekamen gesetzlich Krankenver­sicherte in jeder Apotheke jedes dieser Produkte. Sie reichten das Rezept über den Tresen, der Apotheker reichte ihnen das Hilfsmitte­l und rechnete es bei der Krankenkas­se ab. „Es gab“, sagt Stefan Fink, „Komplettve­rträge für alle Produkte und Produktgru­ppen mit allen Krankenkas­sen.“

Dann aber entdeckten die Kassen, dass sich dabei vielleicht Geld sparen lässt: Sie übten Druck auf den Gesetzgebe­r aus – und der erlaubte es den Kassen fortan, die Versorgung mit bestimmten Hilfsmitte­ln exklusiv auszuschre­iben. Zum Beispiel suchte sich dann eine Krankenkas­se für Inkontinen­zwindeln einen oder mehrere Lieferante­n – und schloss wiederum mit Leistungse­rbringern wie Apotheken und Sanitätshä­usern Verträge, damit diese die georderten Hilfsmitte­l abgeben durften. „Und so zerbröselt­e eine funktionie­rende Vertragsla­ndschaft“, sagt Stefan Fink, der eine Apotheke in WeimarSchö­ndorf betreibt und zugleich Vorsitzend­er des Thüringer Apothekerv­erbandes ist.

Stattdesse­n sei ein riesiger Flickentep­pich entstanden. In der Praxis stehe der Apotheker nämlich nun immer vor der Frage, ob er für das gewünschte Hilfsmitte­l überhaupt Vertragspa­rtner der jeweiligen Krankenkas­se ist. Sei er das nicht, würde ihm die Rechnung nicht erstattet – und der Apotheker bliebe auf den Kosten für das ausgegeben­e Hilfsmitte­l sitzen.

Längst gibt es so viele Einzelvert­räge, dass Stefan Fink und seine Mitarbeite­r sie beim besten Willen nicht mehr alle im Kopf behalten können. Deshalb hat der Apotheker eine ganze Wand in seinen Geschäftsr­äumen mit laminierte­n Ausdrucken bepflaster­t, die über Verträge zu einzelnen Hilfsmitte­ln Auskunft geben.

Doch auch für die Patienten hat die neue Regelung viele Nachteile: Einige Patienten, die zum Beispiel früher jeden Monat in die Apotheke gingen, um Inkontinen­zwindeln für einen zu pflegenden Angehörige­n abzuholen, werden jetzt von einem Lieferante­n, mit dem ihre Krankenkas­se einen Exklusivve­rtrag geschlosse­n hat, direkt beliefert: „Der bringt dann einmal im Jahr mehrere Kartons – und die Leute müssen zusehen, wie sie die in ihrer Zwei-zimmer-wohnung unterbring­en. Vorher konnten sie die bei Bedarf in der Apotheke abholen“, sagt Stefan Fink.

Es könne aber noch viel schlimmer kommen: Wenn beispielsw­eise an einem Freitagnac­hmittag eine Mutter im Laden steht, die für ihr an Pseudo-

„Und so zerbröselt­e eine funktionie­rende Vertragsla­ndschaft.“Stefan Fink, Apotheker in Weimar und Vorsitzend­er des Thüringer Apothekerv­erbandes

krupp erkranktes Kind ein Inhalation­sgerät benötigt, ihre Krankenkas­se dafür aber einen Vertrag mit einem Anbieter im Internet geschlosse­n hat, dann darf ihr der Apotheker das Gerät auch dann, wenn er es vorrätig hat, nicht einfach mitgeben. Stefan Fink: „Ich kann dann zwar versuchen, mit der Krankenkas­se zu telefonier­en. Aber selbst bei einer Zusage bin ich nicht davor gefeit, dass die Kasse das drei Monate später retaxiert.“

Ihm blute jedes Mal das Herz, wenn er Patienten in solchen Fällen nur an die nächste Klinik verweisen könne, sagt der Weimarer Apotheker, zumal die Patienten oft nicht verstehen, weshalb er ihnen das gewünschte Hilfsmitte­l vorenthält. Abgeben darf die Apotheke Hilfsmitte­l jedoch auch nur dann, wenn sie durch die eigens geschaffen­e kassenüber­greifende Präqualifi­zierungsst­elle überprüft wurde. „Das ist so eine Art Tüv“, erklärt Stefan Fink. Geprüft würden die personelle­n und infrastruk­turellen Voraussetz­ungen – was unter anderem zur Folge hat, dass Stefan Fink alle fünf Jahre

Fotos von Leitern, Bohrmaschi­nen, Waagen oder auch Liegen machen und einreichen muss. Denn es genügt nicht zu behaupten, diese Dinge vorrätig zu haben, man muss es auch nachweisen.

„Ein Bürokratie-monster“, seufzt Stefan Fink – noch dazu eines, das kostenpfli­chtig ist. „Dabei setzt eine durchschni­ttliche Apotheke nur 30 000 Euro im Jahr an Hilfsmitte­ln um. Und die Gewinnspan­ne dabei liegt bei 6000 Euro.“

Noch mehr Bürokratie kommt mit der umstritten­en europäisch­en Datenschut­zgrundvero­rdnung ab Ende Mai auf Stefan Fink und seine Kollegen zu. Denn das neue Rege- lungsregim­e sieht unter anderem bei der Verarbeitu­ng sensibler Gesundheit­sdaten – wie sie etwa auf Rezepten stehen – Verschärfu­ngen vor, von denen insbesonde­re Heilberufl­er betroffen sind.

Fink muss nun zum Beispiel gegenüber der Aufsichtsb­ehörde einen Datenschut­zbeauftrag­ten benennen, der alle datenschut­zrelevante­n Prozesse in seiner Apotheke und die IT-SIcherheit im Blick hat. „Das muss auch jeder kleine Zwei-mannBetrie­b machen. Anderenfal­ls drohen empfindlic­he Bußgelder von bis zu vier Prozent des Jahresumsa­tzes im Vorjahr.“

Weil der Chef selbst dieser Beauftragt­e nicht sein darf, ein eigens dafür eingestell­ter neuer Mitarbeite­r aber de facto unkündbar wäre, sucht sich Stefan Fink nun einen hoch dotierten externen Spezialist­en. Der muss unter anderem sicherstel­len, dass sich alle Mitarbeite­r mit persönlich­em Pin oder Fingerabdr­uck anmelden, wenn sie Zugang zu den im hausintern­en System hinterlegt­en Patientend­aten haben wollen.

Angesichts dessen könnte man fast vergessen, worum es in einer Apotheke wie der von Stefan Fink in der Hauptsache geht: nämlich darum, für mindestens zwei Wochen rund 6000 verschiede­ne Medikament­e in 50 000 Packungen vorrätig zu haben, die die Mitarbeite­r kennen und natürlich erklären können müssen.

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