Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)
Wenn das Motiv unerkannt bleibt
Opferberatung Ezra zählt acht rechtsmotivierte Tötungsdelikte in Thüringen und der Staat nur eines – Politikerinnen von Linke, SPD und Grüne fordern erneute Überprüfung
Das Gericht muss abwägen. Was spricht für den Täter? Was gegen ihn? Eine deutliche Aussage trifft der Paragraph 46 des Strafgesetzbuches. Er nennt „die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende“. Erkennt das Gericht diese an, fällt eine Strafe in der Regel höher aus als ohne diese Erkenntnis.
In Thüringen versuchen drei Politikerinnen, Tötungsdelikte nachträglich als Tat rechter Gewalt anerkennen zu lassen. Die Landtagsabgeordneten Katharina König-preuss (Linke), Diana Lehmann (SPD) und Madeleine Henfling (Grüne) fordern eine wissenschaftliche Überprüfung nach dem Beispiel Brandenburgs und Berlins. Dort hatten sich Wissenschaftler der Altfälle
angenommen. „In einem transparenten Verfahren“, sagt Christina Büttner von der Opferberatung Ezra in Thüringen. Rechte Gewalt dort zu benennen, wo sie stattgefunden hat, „sind wir den Opfern rechter Gewalt und den Hinterbliebenen schuldig“, sagt König-preuss.
Ezra greift in einer Ausstellung acht Todesfälle auf, bei denen aus Sicht der zivilgesellschaftlichen Organisation ein rechter Hintergrund vorgelegen haben soll. Staatlich anerkannt ist indes nur einer. Diese Differenz treibt Christina Büttner um, weshalb sie den neuerlichen Vorstoß der Landespolitikerinnen begrüßt. „Es ist nicht immer leicht, die Motive einzuordnen“, sagt Büttner im Tlz-gespräch. Manchmal frage sie sich aber, warum Indizien nicht nachgegangen wurde.
Einen Fall, in dem rechte Gewalt auf der Hand liegt, hat Jan
Smendek aufwendig recherchiert. Gerade ist sein Film „Das blinde Auge“erschienen. Er sagt über die Schwierigkeiten seiner Arbeit: „Hinter dem schriftlichen Urteil bin ich sechs Monate hergelaufen.“Erst die Androhung juristischer Schritte führte schließlich zum Erfolg.
Der Fall Axel U. schlägt 2001 hohe Wellen. Auf dem Parkplatz vor dem Freibad in Bad Blankenburg wird er am Himmelfahrtstag von Steffen T. mit Tritten und Schlägen malträtiert. Der Notarzt stellt nur noch den Tod fest. T. ist gut bekannt mit dem Neonazi Tino Brand, dessen Verbindungen zur rechten Terrorzelle NSU, die für zehn Morde verantwortlich ist, später auffliegen. Ein Polizeisprecher, so beschreibt es Ezra in einer Zusammenfassung über die acht Todesfälle, bezeichnet T. als „bekennenden Rechtsradikalen“. Verurteilt wird er wegen Körperverletzung
mit Todesfolge – das Gericht erkennt keine rassistischen, fremdenfeindlichen oder sonstigen menschenverachtenden Motive an. Smendek indes belegt in seinem Film eindrucksvoll, dass es die durchaus gegeben hat. Das Opfer war Epileptiker
und damit möglicherweise in den Augen des Täters sozial randständig.
Bei dem Täter lassen sich sozialdarwinistische Motive zugrunde legen. Seine Vorgeschichte: Er war zum Tatzeitpunkt wegen Körperverletzung
und eines rechtsextremen Propagandadelikts im Bundeszentralregister erfasst.
Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt: „Ernst Haeckel (1834-1919) vertrat als einer der ersten deutschen Sozialdarwinisten Ideen, die später
Eingang in das nationalsozialistische Weltbild fanden. Es setzte Nation und Rasse gleich und rief zur Reinhaltung der deutschen Rasse auf.“In der praktischen Anwendung, der Eugenik, hieße das, dass der Täter so handelte, um die Ausbreitung von Genen
mit ungünstigen Eigenschaften (Erkrankung als Epileptiker) zu verhindern – und damit handelte Steffen T. klar menschenverachtend. Dieser Einordnung folgend müsste die Tat in Bad Blankenburg als Hasskriminalität definiert werden. Ein rechtes Tatmotiv taucht im Urteilsspruch aber nicht auf. Steffen T. wird wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu sieben Jahren Haft verurteilt.
Dieser und sechs weitere Fälle sollen nach dem Willen der drei Politikerinnen erneut überprüft und politisch bewertet werden. Ein Sprecher des Thüringer Innenministeriums sagt auf Anfrage, dass es dazu noch keine Entscheidung gibt.
Letztmalig wurden die Fälle nach dem Auffliegen der Nsumordserie überprüft und sind nicht neu bewertet worden. Einzig als rechtsmotivierte Tat gekennzeichnet bleibt in Thüringen
der Fall von Karl S. Er wurde 2009 durch die Bundesregierung anerkannt.
Rechte Jugendliche hatten im Januar 1993 auf den Wächter des Arnstädter Schlossparks eingeprügelt – bis er starb. Warum ausgerechnet dieser Fall anerkannt wurde? Jan Smendek unternimmt den Versuch einer Erklärung: „Das Definitionssystem für politisch-motivierte Kriminalität ist sehr staatsschutzlastig.“Der Getötete war bei der Stadtverwaltung beschäftigt. Damit könne die Attacke, so Smendek, aus den Augen der Täter gegen den Staat gerichtet gewesen sein.
Für die anderen Fälle lassen sich staatliche Zusammenhänge nicht erkennen – und sie alle sind bisher nicht als rechte Gewalttaten anerkannt.
„Die nachträgliche Anerkennung der Fälle könnte zu einer Sensibilisierung der Behörden für die Zukunft beitragen.“
Christina Büttner, Opferberatung Ezra