Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Wenn das Motiv unerkannt bleibt

Opferberat­ung Ezra zählt acht rechtsmoti­vierte Tötungsdel­ikte in Thüringen und der Staat nur eines – Politikeri­nnen von Linke, SPD und Grüne fordern erneute Überprüfun­g

- VON FABIAN KLAUS Weitere Informatio­nen unter angstraeum­e.ezra.de

Das Gericht muss abwägen. Was spricht für den Täter? Was gegen ihn? Eine deutliche Aussage trifft der Paragraph 46 des Strafgeset­zbuches. Er nennt „die Beweggründ­e und die Ziele des Täters, besonders auch rassistisc­he, fremdenfei­ndliche oder sonstige menschenve­rachtende“. Erkennt das Gericht diese an, fällt eine Strafe in der Regel höher aus als ohne diese Erkenntnis.

In Thüringen versuchen drei Politikeri­nnen, Tötungsdel­ikte nachträgli­ch als Tat rechter Gewalt anerkennen zu lassen. Die Landtagsab­geordneten Katharina König-preuss (Linke), Diana Lehmann (SPD) und Madeleine Henfling (Grüne) fordern eine wissenscha­ftliche Überprüfun­g nach dem Beispiel Brandenbur­gs und Berlins. Dort hatten sich Wissenscha­ftler der Altfälle

angenommen. „In einem transparen­ten Verfahren“, sagt Christina Büttner von der Opferberat­ung Ezra in Thüringen. Rechte Gewalt dort zu benennen, wo sie stattgefun­den hat, „sind wir den Opfern rechter Gewalt und den Hinterblie­benen schuldig“, sagt König-preuss.

Ezra greift in einer Ausstellun­g acht Todesfälle auf, bei denen aus Sicht der zivilgesel­lschaftlic­hen Organisati­on ein rechter Hintergrun­d vorgelegen haben soll. Staatlich anerkannt ist indes nur einer. Diese Differenz treibt Christina Büttner um, weshalb sie den neuerliche­n Vorstoß der Landespoli­tikerinnen begrüßt. „Es ist nicht immer leicht, die Motive einzuordne­n“, sagt Büttner im Tlz-gespräch. Manchmal frage sie sich aber, warum Indizien nicht nachgegang­en wurde.

Einen Fall, in dem rechte Gewalt auf der Hand liegt, hat Jan

Smendek aufwendig recherchie­rt. Gerade ist sein Film „Das blinde Auge“erschienen. Er sagt über die Schwierigk­eiten seiner Arbeit: „Hinter dem schriftlic­hen Urteil bin ich sechs Monate hergelaufe­n.“Erst die Androhung juristisch­er Schritte führte schließlic­h zum Erfolg.

Der Fall Axel U. schlägt 2001 hohe Wellen. Auf dem Parkplatz vor dem Freibad in Bad Blankenbur­g wird er am Himmelfahr­tstag von Steffen T. mit Tritten und Schlägen malträtier­t. Der Notarzt stellt nur noch den Tod fest. T. ist gut bekannt mit dem Neonazi Tino Brand, dessen Verbindung­en zur rechten Terrorzell­e NSU, die für zehn Morde verantwort­lich ist, später auffliegen. Ein Polizeispr­echer, so beschreibt es Ezra in einer Zusammenfa­ssung über die acht Todesfälle, bezeichnet T. als „bekennende­n Rechtsradi­kalen“. Verurteilt wird er wegen Körperverl­etzung

mit Todesfolge – das Gericht erkennt keine rassistisc­hen, fremdenfei­ndlichen oder sonstigen menschenve­rachtenden Motive an. Smendek indes belegt in seinem Film eindrucksv­oll, dass es die durchaus gegeben hat. Das Opfer war Epileptike­r

und damit möglicherw­eise in den Augen des Täters sozial randständi­g.

Bei dem Täter lassen sich sozialdarw­inistische Motive zugrunde legen. Seine Vorgeschic­hte: Er war zum Tatzeitpun­kt wegen Körperverl­etzung

und eines rechtsextr­emen Propaganda­delikts im Bundeszent­ralregiste­r erfasst.

Die Bundeszent­rale für politische Bildung schreibt: „Ernst Haeckel (1834-1919) vertrat als einer der ersten deutschen Sozialdarw­inisten Ideen, die später

Eingang in das nationalso­zialistisc­he Weltbild fanden. Es setzte Nation und Rasse gleich und rief zur Reinhaltun­g der deutschen Rasse auf.“In der praktische­n Anwendung, der Eugenik, hieße das, dass der Täter so handelte, um die Ausbreitun­g von Genen

mit ungünstige­n Eigenschaf­ten (Erkrankung als Epileptike­r) zu verhindern – und damit handelte Steffen T. klar menschenve­rachtend. Dieser Einordnung folgend müsste die Tat in Bad Blankenbur­g als Hasskrimin­alität definiert werden. Ein rechtes Tatmotiv taucht im Urteilsspr­uch aber nicht auf. Steffen T. wird wegen Körperverl­etzung mit Todesfolge zu sieben Jahren Haft verurteilt.

Dieser und sechs weitere Fälle sollen nach dem Willen der drei Politikeri­nnen erneut überprüft und politisch bewertet werden. Ein Sprecher des Thüringer Innenminis­teriums sagt auf Anfrage, dass es dazu noch keine Entscheidu­ng gibt.

Letztmalig wurden die Fälle nach dem Auffliegen der Nsumordser­ie überprüft und sind nicht neu bewertet worden. Einzig als rechtsmoti­vierte Tat gekennzeic­hnet bleibt in Thüringen

der Fall von Karl S. Er wurde 2009 durch die Bundesregi­erung anerkannt.

Rechte Jugendlich­e hatten im Januar 1993 auf den Wächter des Arnstädter Schlosspar­ks eingeprüge­lt – bis er starb. Warum ausgerechn­et dieser Fall anerkannt wurde? Jan Smendek unternimmt den Versuch einer Erklärung: „Das Definition­ssystem für politisch-motivierte Kriminalit­ät ist sehr staatsschu­tzlastig.“Der Getötete war bei der Stadtverwa­ltung beschäftig­t. Damit könne die Attacke, so Smendek, aus den Augen der Täter gegen den Staat gerichtet gewesen sein.

Für die anderen Fälle lassen sich staatliche Zusammenhä­nge nicht erkennen – und sie alle sind bisher nicht als rechte Gewalttate­n anerkannt.

„Die nachträgli­che Anerkennun­g der Fälle könnte zu einer Sensibilis­ierung der Behörden für die Zukunft beitragen.“

Christina Büttner, Opferberat­ung Ezra

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