Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)
Wirkstoff lässt Haare sprießen
Forscher entdeckten die Substanz per Zufall. Im Labor überzeugte sie, Probandentests stehen noch aus
MANCHESTER. Ob Geheimratsecken, schüttere Stellen oder kahle Flächen: In Deutschland leiden Millionen Menschen an Haarausfall. Ursache ist häufig eine Veranlagung, die Haarfollikel empfindlich auf das männliche Geschlechtshormon Testosteron reagieren lässt. Etwa zwei Drittel der Männer und fast jede zweite Frau sind davon betroffen. Die zwei bislang dafür zugelassenen Wirkstoffe – Minoxidil und Finasterid – können diesen Prozess nur bremsen. Die Haare wachsen lassen, können sie nicht. Anders soll es bei einem Wirkstoff aussehen, über den Forscher um Ralf Paus von der britischen University of Manchester jetzt im Fachblatt „Plos Biology“berichten.
Sie waren per Zufall darauf gestoßen, denn ursprünglich hatten sie ein anderes Mittel untersucht: Cyclosporin A. Es wird zur Unterdrückung von Reaktionen des Immunsystems verwendet und hat mehrere schwere Nebenwirkungen – eine der harmloseren ist übermäßiges Haarwachstum. Das Team um Paus untersuchte im Labor, wie es dazu kommt.
Cyclosporin A hemmt demnach ein bestimmtes Protein mit dem Namen SFRP1. Dieses wirkt sich seinerseits hemmend auf den sogenannten Wnt-signalweg aus. Er ist in vielen Gewebestrukturen entscheidend für Entwicklung und Wachstum, wie die Autoren erklären. Sie suchten also nach einem weniger aggressiven Weg, das Protein SFRP1 zu hemmen und fanden diesen in Form des Wirkstoffs WAY-316606. Schon länger ist bekannt, dass SFRP1 auch im Knochen vorkommt und hier zu Krankheiten wie Osteoporose führen kann. WAY316606 hatte die Knochenbildung in Studien wieder stimulieren können.
Paus und seine Kollegen untersuchten nun erstmals seine Wirkung auf Haarfollikel und wurden nicht enttäuscht: Bereits nach zwei Behandlungstagen habe WAY-316606 die Verlängerung der Haare signifikant verstärkt – ohne die Nebenwirkungen, die von Minoxidil und Finasterid bekannt sind. Das rezeptpflichtige Finasterid wird eigentlich bei vergrößerter Prostata eingesetzt, erklären die Arzneimittelexperten der Stiftung Warentest, die Medikamente regelmäßig anhand der aktuellen Studienlage prüfen. Es könne sich negativ auf Potenz und Libido auswirken, auch depressive Verstimmung, starker Hautausschlag sowie Herzrasen oder Atemnot zählten zu den beobachteten Nebenwirkungen.
Minoxidil gebe es auch ohne Rezept. Der Wirkstoff dient auch als Blutdrucksenker und kann zu entsprechenden Nebenwirkungen wie Schwindel, Brustschmerz oder Schwächegefühl führen, so die Experten. Hautausschlag und vermehrtes Haarwachstum an anderen Körperstellen stehen als mögliche Nebenwirkungen in der Packungsbeilage.
Von WAY-316606 sei bisher keine negative Einwirkung auf den menschlichen Körper bekannt, schreiben Paus und Kollegen. Dank der Kooperation mit einem Haartransplantations-chirurgen konnten die Experimente der Forscher an echten Haarfollikeln, die von 40 Patienten gespendet worden waren, durchgeführt werden. „Dies macht unsere Forschung klinisch sehr relevant, da viele Haarforschungsstudien nur Zellkulturen verwenden“, sagt Nathan Hawkshaw von der University of Manchester, Erstautor der Studie.
Bevor der Wirkstoff allerdings eine Zulassung für die Anwendung bei Haarausfall erhalten kann, muss er sich in Probandentest als sicher erweisen. Wann und ob solche Studien geplant sind, gaben die Wissenschaftler vorerst nicht bekannt.
Der nicht an der Studie beteiligte Bonner Dermatologe Gerhard Lutz bezeichnet die Ergebnisse als „wissenschaftlich fundiert erstellt“. Vor vielen Jahren sei in einem Fachartikel die erfolgreiche Behandlung von kreisrundem Haarausfall mit Cyclosporin A beschrieben worden. „Aufgrund seiner Nebenwirkungen kann es nicht im klinischen Alltag eingesetzt werden.“Es eigne sich aber als Leitsubstanz zum Auffinden neuer Behandlungswege – wie in der aktuellen Studie geschehen.
Bisher können Mittel den Haarausfall nur bremsen