Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)
Abwanderung aus Ämtern
Behörden bluten personell aus, weil die Ärzte viel weniger als ihre Kollegen in Krankenhäusern oder Praxen verdienen – Pflichtaufgaben werden zwangsläufig vernachlässigt
ERFURT. In Thüringen erfüllt kein einziges Gesundheitsamt mehr die Vorgaben der personellen Ausstattung. Die Folge: Pflichtaufgaben wie Krankenhausbegehungen oder Reihenuntersuchungen in Kitas und Schulen werden in immer geringerem Maße erfüllt.
MILDA. Die kleine Lina hat ihre Sache sehr gut gemacht: Ist auf dem linken und dem rechten Bein quer durch den Klassenraum gehüpft, eine blaue Linie entlangbalanciert und beim Nachsprechen selbst an Wörtern wie „Strickstrumpf“oder „Schlüsselblume“nicht gescheitert. Sie hat problemlos die Umrisse eines Mondes nachgezeichnet, eine vierteilige Bildergeschichte in der richtigen Reihenfolge gelegt, Farben bestimmt und bis zwölf gezählt. Kurzum: Die Sechsjährige darf von August an wie ihre beiden älteren Geschwister zur Schule gehen.
Lina ist an diesem Vormittag in der Staatlichen Grundschule Milda das letzte von fünf Kindern, die Dr. Bettina Naumann, Fachärztin im Gesundheitsamt des Saale-holzland-kreises, gemeinsam mit Schwester Ulrike Wehrmeister und Mildas Kitaleiterin Kati Güther vor der Einschulung unter die Lupe genommen hat.
Allein die Kita Milda verabschiedet in diesem Sommer etwa 15 Schulanfänger – zirka 700 sind es im gesamten Landkreis. Und sie alle dürfen nur dann zur Schule gehen, wenn sie vonÄrzt endes Öffentlichen G es und heitsdien st es(ÖGD)unt ersucht und ihren künftigen Schulen die Ergebnisse der Schule in gangs untersuchung mitgeteilt wurden.
Pro Kind dauert die Untersuchung etwa eine Dreiviertel stunde, sagt Bettina Naumann. „Man würde es vielleicht auch in 30 Minuten schaffen. Aber ich will mir Zeit für das Kind und die Beratung der Eltern nehmen.“Denn im Grunde sei diese Untersuchung die einzige, bei der sie sich noch über den Gesundheitszustand aller Kinder einer Altersstufe ein Bild machen könne.
Reihen untersuchungen inder 4. und 8. Klasse, wie sie Amtsärzten ach derSchul gesundheitspflege verordnung vornehmen sollen, oder jährliche Untersuchungen aller Kindergarten kinder seien aus Personal mangel nämlich längst nicht mehr flächendeckend möglich. Wenn Bettina Naumann nicht ein pensionierter, inzwischen 74-jähriger Arzt-kollege mit sechs Stunden pro Woche zur Seite stünde, wären selbstdi eS chul eingangs untersuchungen kaum zu bewältigen–und die machen nur einen kleinen Teil ihrer Arbeit aus.
Die Spannbreite der Aufgaben, denen sich Gesundheitsämter und damit Ärzte wie Bettina Naumann widmen müssen, ist riesig – und sie wird immer größer, während andererseits immer weniger Ärzte im ÖGD arbeiten. So ist Bettina Naumann zuständig für Hygiene kontrollen in Krankenhäusern sowie Arztpraxen und Einrichtungen, in denen das Infektionsrisiko hoch ist. Sie muss zudem jährlich knapp 1000 Totenscheine auf ihre Plausibilität prüfen – „und da bin ich noch besser dran als die Kollegen, in deren Beritt es ein Krematorium gibt und die die gesetzlich vorgeschriebene zweite Leichenschau durchführen müssen“. Außerdem hat sie die Hygiene-aufsicht über das Trinkwasser, die Badegewässer und die Freibäder in ihrem Landkreis, ist zuständig für V erbe amtungs untersuchungen für Lehrer und Hochs chul professoren, Einstellungs untersuchungen von Bewerbern für den ÖGD und zusammen mit ihrem für den sozial psychiatrischen Dienst eingestellten Kollegen auch noch dafür, dass psychisch kranken Menschen Hilfen angeboten werden – bis hin zur Einweisung in die Klinik, wenn ein Patient für sich oder andere zur Gefahr wird. Dazu kommen Gutachten, die zum Beispiel für Kinder mit Entwicklungs defiziten und Bedarf an Früh förderung geschrieben werden müssen–und deren Zahl steigt. Wie zu den Aufgaben der Gesundheitsämter auch die Pflicht untersuchungen der Kinder-und Jugendzahnärzte sowie der Bereich der G es und heits förderung/ prävention gehören.
Wirklich zu erfüllen sind all diese Pflichtaufgaben schon lange nicht mehr (siehe Grafik). Denn dem ÖGD gehen die Mediziner aus: Schon jetzt sind zahlreiche Stellen in den Kommunen nicht besetzt.
Grund dafür ist aber nicht nur der viel beklagte Ärztemangel. Immer seltener sind gestandene Ärzte auch dazu bereit, finanzielle Abstriche hinzunehmen, wenn sie in der Verwaltung statt in der Klinik oder in der eigenen Praxis arbeiten. Denn die Einkommens unterschiede zwischen Klinik ärzten und Ärzten imÖGD sind eklatant.
Das hängt damit zusammen, dass Ärzte im ÖGD wie die übrigen dort beschäftigten Angestellten nachdem Flächen tarifvertrag TVÖGbezah lt werden, während die Ärzte gewerkschaft Marburg er Bund einen eigenen Tarifvertrag für Klinikärzte erstritten hat. „Man will Arztleistungen im ÖGD, ist aber nicht dazu bereit, die Ärzte auch wie Ärzte zu bezahlen“, ärgert sich Bettina Naumann. „Bei uns im Saale-holzland sind zwei Stellen im Gesundheitsamt ausgeschrieben. Aber sobald das Vorstellungsgespräch zum Punkt Vergütung kommt, ist Schluss. Die Stellen sind einfach nicht nachzubesetzen.“
Das Land scheint dieses Problem zwar erkannt zu haben, es versucht auch, mit Zulagen, die
„Man will Arztleistungen, ist aber nicht dazu bereit, die Ärzte auch wie Ärzte zu bezahlen.“ Dr. Bettina Naumann
„Bezahlerei nach allerbester Gutsherrenmanier“ Landesverband Thüringen
die Kommunen beantragen können, zu locken. Doch diese Zulagen verärgern die derzeitigen Amtsärzte mehr als dass sie sich darüber freuen. Denn höher vergütet werden bislang nur Neueinsteiger, während Ärzte, die schon lange im ÖGD sind und dort die Fahne hoch und den wachsenden Arbeitsdruck aushalten, leer ausgehen.
Nicht zuletzt deshalb bittet der Landesverband Thüringen der Ärzte und Zahnärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (LVT) die Landesregierung, „diese aktuelle Bezahlerei nach allerbester Gutsherrenmanier zu beenden und für gerechte Optionen zu sorgen“, wie es in einem Schreiben vom Juli 2017 heißt. Schließlich könne es nicht sein, dass die altgedienten Kollegen erst mit Kündigung drohen und den Nachweis für ein „ernsthaftes Abwanderungsinteresse“erbringen müssen, um womöglich in den Genuss von Zulagen zu kommen. Bettina Naumann ärgert es jedes Mal aufs Neue, wenn sich das Land wieder für die Aufstockung der Amtsarzt-gehälter feiern lässt.
Zudem lösen Gehaltszulagen das Problem nicht: Zur Gehaltsdifferenz kommt nämlich, dass Ärzte im ÖGD auch den entsprechenden Facharzt in der Tasche haben müssen. „Da die allerwenigsten Ärzte, die in den ÖGD einsteigen, diesen Facharzt aber schon haben, müssen sie ihn noch erwerben. Doch welche Kommune kann es sich leisten, einen Arzt einzustellen, der dann erst einmal 36 Monate eine klinische Ausbildung absolvieren muss und damit gar nicht vor Ort ist?“, fragt Bettina Naumann, die zugleich stellvertretende Vorsitzende des LVT ist.
Naumann selbst hat bis 2005 in Kliniken in Jena und Weimar als Ärztin gearbeitet und nach dem Facharzt für Inneres noch ein Zusatzstudium in Public Health drangehängt, um die nötige Qualifikation für den ÖGD vorweisen zu können. Sie hat sich damals „ganz bewusst für das Amt entschieden“, nicht zuletzt, weil ihr nicht zusagte, wie der Krankenhausbetrieb mit der Einführung der Fallpauschalen immer mehr ökonomisiert wurde.
Die Arbeit in der Behörde macht ihr nach wie vor Spaß, vor allem die mit Kindern, auch wenn sie im Moment aus persönlichen Gründen ihre Arbeitszeit reduziert hat. Doch es treibt Bettina Naumann um, dass dem ÖGD der Kollaps droht und das Thema bei der Politik trotzdem nicht ankommt. Das liegt aus ihrer Sicht auch daran, dass es an ärztlicher Expertise im Ministerium wie im Landesverwaltungsamt fehlt. Bester Beweis dafür ist aus Bettina Naumanns Sicht, dass das Ministerium einen Bericht zum ÖGD, an dem vier Vertreter von Gesundheitsämtern mitwirkten, als völlig unbrauchbar einstufte und stattdessen lieber externen Sachverstand einkauft (TLZ berichtete). „Dabei war das der ausführlichste Bericht, der je erarbeitet wurde.“Bettina Naumann hat vor acht Jahren das Amt der Leiterin des Gesundheitsamtes niedergelegt. Ihr Gehalt ist derweil das gleiche geblieben, denn die frühere Leitungsfunktion wurde schlicht nicht vergütet. Inzwischen wird das Gesundheitsamt im Saale-holzland kommissarisch von einem Verwaltungsbeamten und nicht – wie vom Gesetzgeber vorgeschrieben – von einem Arzt geleitet. Den Aufsichtsbehörden ist das zwar bekannt. Allein: Sie nehmen es kommentarlos hin.
Die kleine Lina hat sich inzwischen wieder angekleidet und auch die Ohrstecker wieder angelegt, die sie vor dem Hörtest vorsorglich entfernte. Frohgemut spaziert sie an der Hand ihrer Mutter aus dem Klassenraum, in dem Bettina Naumann und Schwester Ulrike nun alles zusammenpacken: Waage und Zollstock, Spatel und Stethoskop, Buntstifte und Bilderkarten. „So“, sagt die Amtsärztin, während sie Unterlagen in der Tasche verstaut, „mit Milda sind wir für dieses Jahr durch.“Für sie geht es nun zurück ins Amt nach Stadtroda, wo die erhobenen Daten noch für die Statistik ins System eingepflegt werden müssen.
Ginge es nach dem Gesundheitsministerium, würden die Amtsärzte bei der Schuleingangsuntersuchung auch gleich noch ausstehende Impfungen vornehmen. „Aber das schaffen wir gar nicht“, sagt Bettina Naumann. „Wir bräuchten dazu eine zweite Schwester und eine Medikamenten-kühlbox. Beides haben wir nicht. Außerdem hätten die Kinder dann Angst, wenn sie zur Schuluntersuchung kommen. Und das wollen wir nicht.“
Früher, blickt Bettina Naumann beim Rausgehen zurück, hätten sie bei den Schuleingangsuntersuchungen in Milda auch die Kinder gleich mit untersucht, die in Jena oder im Weimarer Land wohnen, aber in Milda in den Kindergarten gehen. Sie waren ja sowieso vor Ort. „Aber das geht nicht mehr.“Diese Kinder müssten sich nun in den Gesundheitsämtern ihrer Kommunen vorstellen.