Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)
Streit eskaliert vor dem Wm-start
Diskussion um Gündogan und Özil belastet Nationalteam. Bundeskanzlerin Merkel setzt sich für die Spieler ein
LEVERKUSEN. Am Dienstag wird Ilkay Gündogan in Frankfurt in die Lufthansa-maschine LH2018 nach Moskau steigen und die Sache räumlich hinter sich lassen. Der 27-Jährige reist mit der deutschen Nationalmannschaft zur WM nach Russland. 2000 Kilometer Luftlinie liegen zwischen Leverkusen und Moskau, doch Gündogan werden die Pfiffe bis dorthin verfolgen, die ihn am Freitagabend schon bei jeder Ballberührung begleitet haben.
Eigentlich ist es ein Jammer. Ilkay Gündogan ist einer der begabtesten Fußballer des Landes. Nie aber konnte er bei einem Turnier für Deutschland Akzente setzen. Bei der WM 2014 fehlte er verletzt. Bei der EM 2016 ebenfalls.
Und nun, da der Mittelfeldspieler endlich gesund ist, wirft die Affäre „Erdogan“einen Schatten auf ihn und Mesut Özil – und gefährdet die Titel-ambitionen in Russland.
Bundestrainer Löw wirkt ratlos
„Eine Mannschaft lebt auch davon, dass jeder Spieler unterstützt wird“, sagte Bundestrainer Joachim Löw, nachdem beim 2:1 gegen Saudi-arabien am Freitag in Leverkusen ein halbes Stadion seinen Unmut ausdrückte, als Gündogan in der 57. Minute eingewechselt wurde. „Ich frage mich, was Ilkay tun muss. Er hat sich der Presse gestellt und gesagt, dass es kein politisches Statement war. Dann ist das Thema auch irgendwann mal vorbei, okay?“, sagte Löw und wirkte ratlos.
Vorbei ist das Thema nicht, das Gündogan und Özil durch das Treffen mit dem türkischen Machthaber Recep Tayyip Erdogan und der Schenkung eines mit Widmung versehenen Trikots („Für meinen Präsidenten“) aufgemacht haben. Vielmehr ist es noch einmal größer geworden seit Freitagabend.
Vor dem ersten deutschen Wm-gruppenspiel gegen Mexiko am Sonntag beherrscht die Affäre die Sportseiten der deutschen Presse. „Kosten uns die Pfiffe den Wm-titel?“, fragte die „Bild am Sonntag“. Von „unabsehbaren Folgen für die WM“, schrieb die FAZ. In einem Kommentar auf „Spiegel Online“nannte der Autor die Pfiffe der deutschen Fans „Rassismus“.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat sich für Özil und Gündogan eingesetzt. „Ich glaube, die beiden Spieler haben nicht bedacht, was das Foto auslöst mit dem Präsidenten Erdogan“, sagte Merkel am Sonntagabend bei Anne Will in der ARD. Die Kanzlerin ergänzte: „Ich finde, wir brauchen die jetzt alle, damit wir gut abschneiden.“ Gündogan und Özil gehörten zur Nationalmannschaft, „und deshalb würde ich mich freuen, wenn mancher Fan auch klatschen könnte“.
Kapitän Neuer hatte nach dem Spiel in Leverkusen erklärt: „Wir versuchen, das nicht auf uns einprasseln zu lassen.“Aber das ist längst passiert, wie die Worte von Mario Gomez zeigen: „Wir sollten jetzt nicht versuchen, das Ding noch mehr zu spalten, sondern wieder eine Brücke zu bauen, dass wir mit ganz anderen Gedanken in die WM gehen können.“
Dass das Thema nicht nur atmosphärisch, sondern auch sportlich zum Problem werden könnte, darauf wies Sami Khedira hin: „Es belastet Ilkay, das sieht man an seiner Leistung. Er ist verunsichert – und das schlägt sich auf die Mannschaft nieder.“
Der deutschen Elf könnte helfen, dass der Konflikt sich nicht durch die Reihen der Spieler zieht. Vielmehr solidarisierten sich die Kollegen mit Gündogan und Özil: „Man muss die Aktion der beiden nicht gut finden, aber wir reden nicht davon, dass sich zwei Leute über Jahre irgendwelche Ausfälle erlauben, sondern von zwei Spielern, die schon oft für uns gespielt haben, alles für uns geben und sich eine Aktion geleistet haben“, sagte Mats Hummels. Wie man die Sache lösen könnte, wurde er gefragt: „Wir müssen darüber reden.“
Aber genau das ist das Problem. Der DFB trägt eine Mitschuld an den Misstönen, weil er den Brandherd durch Kleinreden und einem inszenierten Besuch bei Bundespräsident Frank-walter Steinmeier austreten wollte. Auch er pfiff – auf eine echte Aufklärung. Er konnte nur Gündogan, der sich vor (ausgewählten!) Pressevertretern äußerte, aber nicht wirklich erklärte, zu einer Stellungnahme bewegen.
Özil durfte weiter schweigen. Zudem tat sich Nationalmannschaftsdirektor Oliver Bierhoff mit der Unart hervor, einem Ard-reporter vor dem Spiel gegen Saudi-arabien die Fragen nach beiden Spieler verbieten zu wollen. Schlechtes Krisenmanagement nennt man das. Das hat die Leute noch mehr erzürnt, und das hat auch die Branche erkannt.
„Das Thema wurde unterschätzt. Ich glaube auch, dass man es nicht alleine mit den Maßnahmen und Erklärungen, die bisher erfolgt sind, aus der Welt schaffen kann“, sagte Ligapräsident Reinhard Rauball in der „Bild am Sonntag“. Der DFB muss sich etwas einfallen lassen. Gündogan schickte vor der Abreise noch eine Botschaft auf Twitter. Dort schrieb er zu einem Bild vom Test gegen Saudi-arabien: „Letztes Spiel vor der WM … und immer noch dankbar, für dieses Land zu spielen.“Dieses Bekenntnis lobte Merkel auch am Sonntagabend.