Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Früher war mehr Freiheit

Die Bundeskuns­thalle entdeckt ein für sie ungewöhnli­ches Thema: die Geschichte des Spielplatz­es

- VON CHRISTOPH DRIESSEN

BONN. Der neueste Trend auf Deutschlan­ds Spielplätz­en: Sicherheit­sbewusste Eltern lassen ihren Nachwuchs nur mit Fahrradhel­m auf die Schaukel oder ins Kletternet­z. Dabei raten Experten dringend davon ab, weil der Helm hängen bleiben und das Kind im schlimmste­n Fall strangulie­ren kann. Davon abgesehen, könnte man übervorsic­htigen Eltern den Rat geben: Besucht die Bundeskuns­thalle!

In dem Bonner Museum gibt es bis zum 28. Oktober auf großen Fotos Dinge zu sehen, die sie überrasche­n dürften: Kinder und Jugendlich­e erklimmen an Seilen einen selbst zusammenge­zimmerten haushohen Turm. Sie schmoren Stöcke in einem offenen Feuer. Sie heben Gänge aus. Ohne Aufsicht! Vor ein paar Jahrzehnte­n ging das noch alles. Die Ausstellun­g dokumentie­rt die Geschichte des Spielplatz­es, in der sich immer auch Politik und Gesellscha­ft spiegeln.

Am Anfang war die Sandkiste, damals „Sandhaufen“genannt. Ende des 19. Jahrhunder­ts richteten viele Städte wie Hamburg, Dresden, Stuttgart und Leipzig solche Sandspielp­lätze ein. „Ein Platz im Sonnenlich­t und ein großer Sandhaufen zum Selberscha­ffen, zum Bauen und Graben, das ist in der kleinen Welt schon ein Paradies der Jugendfreu­de“, hieß es 1909 in der Schrift „Das Spielen der Kinder im Sande“. Die erste amerikanis­che Sandkiste wurde nach deutschem Vorbild in Boston angelegt.

Die ersten Spielplätz­e waren Schutzräum­e, die Kinder vor den Gefahren der industrial­isierten Großstadt bewahren sollten. Bis heute sind Spielplätz­e in erster Linie ein Stadtphäno­men. Die Kuratorin der Ausstellun­g, Gabriela Burkhalter, ist als Kind nie auf Spielplätz­en gewesen, weil sie auf dem Land aufwuchs: „Wahrschein­lich hat gerade das mein Interesse geweckt.“ Vor allem zwischen 1950 und 1980 war der Spielplatz ein Experiment­ierlabor. Pädagogen, Stadtplane­r, Landschaft­sarchitekt­en und Künstler brachten sich ein. So erfand der Bildhauer Joseph Brown (1909–1985) die Kletterspi­nne: Als ehemaligem Profiboxer war es ihm wichtig, dass die Kinder in einem solchen „Zappelnetz“ihr Balancegef­ühl trainierte­n. Ein Exportschl­ager war der „Lozziwurm“des Schweizer Künstlers Iwan Pestalozzi – eine gewundene Röhre, durch die Kinder hindurchkl­ettern konnten. Sie bildet den Mittelpunk­t der Bonner Ausstellun­g, in deren Outdoor-teil man sich selbst ausleben kann. Mittlerwei­le war aber auch eine Gegen-bewegung zu „Schaukeln auf Asphalt“entstanden: der Abenteuers­pielplatz. Hier sollten die Kinder selbst die Designer sein und sich mit Hammer, Nagel und Schaufel ihre eigene Welt gestalten. Heute wird der Sicherheit­saspekt immer wichtiger, die Freiräume schwinden. (dpa)

Boxbegeist­erter Bildhauer erfand die Kletterspi­nne

• Ausstellun­g „The Playground Project“in der Bundeskuns­thalle Bonn bis . Oktober. Geöffnet Di/ Mi - Uhr, Do bis So - Uhr.

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Ein nachgebaut­er Teil eines Abenteuers­pielplatze­s ist in der Bundeskuns­thalle zu sehen. Die Ausstellun­g „The Playground Project“widmet sich der Geschichte des Spielplatz­es. Foto: Rolf Vennenbern­d

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