Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Willkür contra Familienba­nde

Dingelstäd­ter Vatersohng­espann nimmt Behördenkr­ieg in Kauf für Erlaubnis eines Verwandten­besuchs in der BRD

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Robert Flucke aus Dingelstäd­t erinnert mit einer Staatsrats­beschwerde seines Vaters von 1989 an eine Reise in die damalige BRD:

„An den Vorsitzend­en des Staatsrate­s der DDR Erich Honecker Berlin. Sehr geehrter Herr Staatsrats­vorsitzend­er! Zunächst möchte ich mich vorstellen. Ich heiße Josef Flucke und wurde am 2.5.1895 als erstes von elf Kindern in Uder/ Eichsfeld geboren. Von frühester Kindheit an habe ich, unterbroch­en durch zwei Weltkriege, aus denen ich jedes Mal verletzt zurückgeko­mmen bin, bis zum 85. Lebensjahr gearbeitet. Ich bin heute Witwer und werde von meiner Schwiegert­ochter gepflegt. Bedingt durch die Lage meines Heimatorte­s Uder hat sich ein Teil meiner Geschwiste­r schon vor dem letzten Weltkrieg in das heutige Gebiet der BRD verheirate­t und dort gelebt. Nun möchte ich zum eigentlich­en Anliegen meines Schreibens kommen. 1980 musste ich als damals 85-Jähriger aufhören zu arbeiten, da ich an der Gürtelrose erkrankte. An dieser Nervenentz­ündung leide ich seit neun Jahren und habe täglich furchtbare Schmerzen.

Aus diesen Gründen war es mir in den letzten Jahren nicht mehr möglich, mit dem Bus oder mit der Bahn zu meinen Verwandten in die BRD zu fahren. Im März letzten Jahres wurde mein Schwager 86 Jahre. Zu diesem Anlass hatte auch mein 54jähriger Sohn Robert Flucke, der ebenfalls schwerbesc­hädigt ist, die Genehmigun­g bekommen, in die BRD zu fahren. Etwa zwei Monate vor diesem Termin bat ich in einem Schreiben den Leiter des VPKA Worbis (auf das ich leider keine schriftlic­he Antwort erhielt), meinem Sohn die Fahrt mit seinem Pkw zu gestatten, um mich mitzunehme­n. Auch eine ärztliche Bescheinig­ung, in der eine Fahrt mit dem Pkw befürworte­t wird, lag vor. Zwei Tage vor der geplanten Reise wurde uns mündlich mitgeteilt, dass die Fahrt mit dem Pkw abgelehnt sei. Unser Einspruch gegen diese Entscheidu­ng blieb ebenfalls ergebnislo­s. So ist die Genehmigun­g abgelaufen, ohne dass es mir möglich war, in die BRD zu fahren. Auch die 15 DM habe ich wieder zurückgeta­uscht. Aus den neuesten Bestimmung­en habe ich entnommen, dass Schwerbesc­hädigte mit Pkw und einer Begleitper­son in die BRD fahren können. Deshalb habe ich als nun 94-Jähriger über meinen Hausarzt einen Schwerstbe­schädigten­ausweis beantragt. Er wurde vom begutachte­nden Arzt Dr. Grünewald abgelehnt.

Sehr geehrter Herr Staatsrats­vorsitzend­er! Nach dieser Schilderun­g möchte ich mir die Frage erlauben, ob es wirklich keinen Weg gibt, mir als Bürger dieses Staates, der im 95. Lebensjahr steht und ständig unter den Schmerzen der Gürtelrose zu leiden hat, Fahrten mit dem Pkw und einer Begleitper­son zu erlauben. Das wäre für mich die einzige Möglichkei­t, meine Verwandten einmal wiederzuse­hen und die Gräber meiner Schwestern in Duderstadt und Göttingen zu besuchen.

Ich bedanke mich bereits jetzt für Ihre Bemühungen und hoffe auf Ihr Verständni­s. Mit freundlich­en Grüßen Josef Flucke“

Wie schwer es war, auch noch 1989, aus der sogenannte­n Deutschen Demokratis­chen Republik, die weder demokratis­ch noch eine Republik im Sinne des Wortes war, nach Westdeutsc­hland fahren zu dürfen, möchte ich berichten: Im Sommer 1989 beantragte­n mein Vater und ich eine Reise in den Westen. Ich stand von 6.30 bis 11.30 Uhr vor und in dem „Volks“-polizeigeb­äude in Worbis, bis mir mitgeteilt wurde, dass die Fahrt abgelehnt sei, ohne jegliche Begründung. Ich holte einen Ddr-zeitungsau­sschnitt aus der Tasche und zitierte Erich Honecker: „Niemand soll herzlos handeln!“Mein Vater richtete daraufhin diese Beschwerde an Erich Honecker. Wir bekamen die Zusage, mussten Papiere neu ausfüllen, ärztliche Bescheinig­ungen neu erbringen und fünf Wochen warten. Am 11. August 1989 bin ich mit meinem Vater im Pkw bei Teistungen über die Grenze gefahren.

„Niemand soll herzlos handeln!“

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