Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

„Es gibt keine Entschuldi­gung für Gewalt“

Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) über Chemnitz, den Streit um Migranten und Chancen seiner Partei bei der Bayernwahl

- VON KERSTIN MÜNSTERMAN­N, JÖRT QUOOS UND MIGUEL SANCHES

BERLIN. Der Innenminis­ter ist gut aufgeräumt, buchstäbli­ch wie bildlich. Auf seinem Schreibtis­ch türmen sich keine Aktenberge. Horst Seehofer beteuert, dass er das Büro nur verlässt, wenn das Tageswerk vollendet, die letzte Vorlage gezeichnet ist. Zum Ende der Sommerpaus­e stellte sich der CSUCHEF und Minister den Fragen unserer Redaktion. Herr Minister, Jagd auf fremd aussehende Bürger, Demonstran­ten, die den Hitlergruß machen. Was sagen Sie zu den Bildern von Chemnitz? Horst Seehofer: Ich verurteile zuallerers­t das Verbrechen, das zu einem Todesfall geführt hat. Das ist sehr schmerzlic­h. Ich verstehe, dass die Bevölkerun­g aufgewühlt ist. Trotzdem sind Gewalt und allein die Aufrufe dazu unter keinen Umständen gerechtfer­tigt. Da muss eine klare Trennlinie sein. Sie haben Hilfe durch die Bundespoli­zei angeboten. Wie kann sie aussehen? Das ist eine polizeitak­tische Frage. Wenn die Bundespoli­zei in einem solchen Fall Einsatzkrä­fte entsendet, werden die unter der Führung des jeweiligen Landes eingesetzt. Aber schon eine höhere Polizeiprä­senz ist beste Prävention. Muss die Polizei im Umgang mit Rechtsextr­emisten besser geschult werden? Da hat die Polizei mein volles Vertrauen. … aber sie hat in Chemnitz davon abgesehen, sich Demonstran­ten zu greifen, die den Hitlergruß machten … Ja, aber die Beamten hatten nicht die Absicht, diese Leute zu decken. Natürlich werden die angezeigt. Nur: Im konkreten Fall, bei einer Demonstrat­ion, zu der wesentlich mehr Menschen erscheinen als erwartet, muss ein Polizeifüh­rer abwägen. Greift er ein, mit der Folge, dass die Lage eskaliert? Oder greift er sich die Gesetzesbr­echer später, wenn die Situation sich beruhigt hat? Das sind einsatztak­tische Fragen. Was sind die Lehren aus Chemnitz, wenn Sie an die Sicherheit der Bürger denken? Null Toleranz gegenüber dem Bruch von Recht und Ordnung. Es gibt bei aller Empörung keine Entschuldi­gung für Gewalt. Wir brauchen einen starken Staat. Politisch müssen wir alles tun, um die Polarisier­ung, die Spaltung unserer Gesellscha­ft zu überwinden. Das ist eine zentrale Botschaft des Koalitions­vertrags nach dem schlechten Wahlergebn­is vor einem Jahr: Wir haben verstanden, es darf kein Weiter-so geben. Afd-fraktionsc­hef Gauland sieht das anders, nennt die Krawalle in Chemnitz „Selbstvert­eidigung“. Verharmlos­t die AFD den Rechtsradi­kalismus, ist sie gar längst ein Teil davon?

Bei allem Verständni­s dafür, dass die Menschen in Chemnitz und auch anderswo über das brutale Tötungsdel­ikt aufgebrach­t sind, verbietet es sich in einem Rechtsstaa­t, zu Gewalt aufzurufen. Allein der Staat hat das Gewaltmono­pol, auch deshalb ist der Begriff Selbstvert­eidigung im Zusammenha­ng mit Gewalt kein passender Begriff. Ich empfehle daher allen politische­n Kräften, die sich in der Verantwort­ung für unsere Demokratie und unseren Rechtsstaa­t sehen, sich von Aufstachel­ung und Gewaltanwe­ndung deutlich zu distanzier­en und von jeglichem Versuch einer Legitimier­ung Abstand zu nehmen.

Muss die AFD durch den Verfassung­sschutz beobachtet werden?

Natürlich muss man immer genau hinschauen, und das tut der Verfassung­sschutz, ob es sich

bei Aussagen von Parteimitg­liedern oder Zusammenar­beit mit bestimmten Gruppen um Einzelmein­ungen oder parteipoli­tische Linie handelt. Derzeit liegen die Voraussetz­ungen für eine Beobachtun­g der Partei als Ganzes für mich nicht vor.

Ärgert es Sie, wenn der abgeschobe­ne Gefährder Sami A. aus Tunesien zurückgeho­lt werden muss?

Meine Überzeugun­g ist, dass Gefährder nicht in Deutschlan­d bleiben sollten. Wenn das richtig ist, muss ein Mann wie Sami A. außer Landes gebracht werden. Die Bevölkerun­g erwartet das auch von uns. Wenn nun ein Gericht eine geplante Abschiebun­g für rechtswidr­ig hält, hat man diese Entscheidu­ng zu respektier­en, ganz gleich, ob man sie nachvollzi­ehen kann oder nicht. Ich konnte nie einsehen, dass jemand sich darauf beruft, dass er in einem Land nicht menschenwü­rdig behandelt wird, das die Bundesregi­erung für einen sicheren Herkunftss­taat erklären möchte, weil dort keine politische Verfolgung stattfinde­t. Muss man ihn noch zurückhole­n, wenn die tunesische Regierung zusichert, dass sie ihn menschenwü­rdig behandelt? Tunesien lässt derzeit den Mann nicht ausreisen. Das Auswärtige Amt bemüht sich darum, eine Zusicherun­g zu bekommen, dass er nicht gefoltert wird. Ich habe dazu auch mit dem tunesische­n Innenminis­ter telefonier­t und ihn gebeten, auf die Verbalnote­n zu antworten. Sami A. hat aus der Haft heraus Interviews gegeben, und inzwischen ist er sogar frei. Die Ausreise liegt allein in der tunesische­n Hand. Ein Grund für die Polarisier­ung der Gesellscha­ft ist die Migrations­politik. Sie haben im Sommer einen Streit darüber losgetrete­n. Hat es sich gelohnt? Es gab einen strittigen Punkt. Ich wollte Menschen, die schon in einem anderen Eu-land Schutz gefunden und Asyl beantragt haben, an der Grenze zurückweis­en. Das sind relativ wenige.

Dass dies eine solche erregte Debatte auslöst, habe ich bis heute nicht verstanden. Sie sagen selbst: eine kleine Zahl. Der Preis war ein ganz bitterer Streit und ein Absturz in den Umfragen. Mir ging es nicht um die Zahl, sondern um die Herstellun­g von Recht und Ordnung. Wenn ich und die CSU an allem schuld wären, müsste die SPD glänzend in den Umfragen dastehen, die CDU noch besser. Aber in Wahrheit haben wir im Moment auch CDU, zu CSU dritt und keine SPD Mehrheit. sind seit Monaten in schwierige­m Fahrwasser. Das kann man nicht nur auf ein paar Wochen im Juni, Juli zurückführ­en.

Vielleicht hat nicht nur der Streit selbst irritiert, sondern der Stil, die Schärfe? Schärfe? Alle wollen Diskussion in der Politik, aber wehe, sie findet statt. Die Kanzlerin hat doch eine andere Sprache angemahnt. Wenn es hart zur Sache geht, kann nicht jeder Satz von höchster diplomatis­cher Kunst sein. Noch mal: Hat der Streit in der Sache geschadet oder genutzt? Es hat in der Sache genutzt, weil wir vorwärtsge­kommen sind. Wann hat es das jemals gegeben, dass die EU innerhalb von Tagen zu einem Thema zwei Gipfeltref­fen abgehalten hat? Das Ergebnis war: keine nationalen Alleingäng­e, stattdesse­n vertraglic­he Abma- chungen. das? Wie nachhaltig ist Abkommen dass es immer haben eine zur Gegenleist­ung Folge, geben muss – die Griechen erwarten, dass man ihnen bei der Familienzu­sammenführ­ung hilft, die Italiener bei der Seenotrett­ung. Ist es im Ergebnis ein Nullsummen­spiel? Wir kriegen durch die Maßnahme noch nicht die definitive Lösung der Zuwanderun­gsprobleme hin, das stimmt. Dass es zu Verhandlun­gen mit Spanien kam, haben die Regierungs­chefs vereinbart. Ich selbst habe klargemach­t, dass ein Abkommen momentan keine besondere Relevanz hat. Den Flüchtling, der aus Spanien kommt, über Österreich nach Deutschlan­d einreist, möchte ich sehen. Hat Ihnen der Streit wenigstens für die bayerische Landtagswa­hl genutzt? Das Thema Migration ist noch nicht so gelöst, wie die Bevölkerun­g das erwartet. Das muss man einfach sagen. Und es sind ganz dicke Bretter, die wir zu bohren haben. Wir haben mit dem Masterplan Migration ein Regelwerk vorgelegt, wir sind mitten bei der Umsetzung. Solange keine konkreten Ergebnisse sichtbar sind, wird die Bevölkerun­g skeptisch bleiben. Es zählt heute nur, ob und was die Politik liefert. Deshalb bleibt die Flüchtling­spolitik ein Thema. Aber naturgemäß spielen bei einer Landtagswa­hl auch andere Fragen eine Rolle. Was kann die CSU erreichen?

Für die CSU ist alles möglich, auch die Verteidigu­ng der absoluten Mehrheit. Wir dürfen uns nicht verunsiche­rn lassen. Es wird ein ganz große Herausford­erung, weil viele Menschen sich erst zuletzt entscheide­n, ob und wen sie wählen. Bayern steht prächtig da, wir haben einen wirklich guten Ministerpr­äsidenten. Unser Problem ist das Aufkommen der AFD. Könnte sie je ein Partner sein? Nein, nein, nein. Wer politisch so sozialisie­rt worden ist wie ich, bekämpft alle politische­n Kräfte, die eine Spaltung unserer Gesellscha­ft vorantreib­en, anstatt sie zu überwinden. Das gelingt mit der vernünftig­en Lösung der Migrations­frage, aber auch mit der richtigen Sozialpoli­tik. Die CDU diskutiert über ein soziales Dienstjahr. Was halten Sie davon? Erst mal halte ich die Aussetzung des Grundwehrd­ienstes für geboten und richtig. Ich will ihn nicht wieder einführen. Zum sozialen Dienstjahr sagen die einen, „endlich ein konservati­ves Thema“, die anderen halten uns vor: „Ihr seid ja ganz verrückt.“Ich bin sehr dafür, über ein soziales Dienstjahr vernünftig und ergebnisof­fen zu diskutiere­n.

Es stellen sich viele Fragen: Was bedeutet der Vorschlag für die Frauen, die heute immer noch im Nachteil sind, weil sie die Hauptlast in den Familien tragen? Was bedeutet er für die Qualität der Versorgung von Pflegebedü­rftigen? Sie sehen, ich bin da nicht festgelegt. Aber ich halte den Anstoß der CDU für diskussion­swürdig.

„Das Thema Migration ist noch nicht so gelöst, wie die Bevölkerun­g das erwartet.“

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Bundesinne­nminister und CSUCHEF Horst Seehofer. Foto: Reto Klar

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