Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Sagen wird man über unsre Tage...

- FRANK QUILITZSCH HAT KURT BARTHELS (KUBAS) GESÄNGE WIEDER IM OHR

Kennen Sie diese Verse noch? Haben Sie die auch mal in der Schule auswendig lernen müssen? Dann sind Sie in etwa meine Generation und im Osten sozialisie­rt. Vielleicht haben Sie sogar noch die ersten Reime im Kopf. Ja? Na, dann sprechen Sie doch einfach mal mit: „Sagen wird man über unsre Tage: / Altes Eisen hatten sie und wenig Mut, / denn sie hatten wenig Kraft nach ihrer Niederlage...“

Prima, der Anfang klappt doch. Dann also frisch weiter! „Sagen wird man über unsre Tage: / ihre Herzen waren voll von bitt’rem Blut / Und ihr Leben lief auf ausgefahr’nen Gleisen, / wird man sagen und man wird auf gläsernen Terrassen stehn / und auf Brücken deuten und auf Gärten weisen...“

Das Gedicht ist von Kurt Barthel, dem Agitprop-sänger, der sich Kuba nannte. Der wollte aus uns neue, dem Sozialismu­s ergebene Menschen formen. Aber ehe wir, seine ehemaligen Nachbeter, uns zum Richter aufschwing­en, fragen wir uns doch lieber mal selber. Was werden wir den kommenden Generation­en hinterlass­en? Was wird man einmal sagen über unsre Tage?

Hier ein paar Vorschläge, spontan, ungeordnet, ungereimt:

Satt fuhren sie in schicken Autos, und immer nach der neuesten Mode gekleidet, so hatten sie ständig mit sich zu tun.

Sie lebten bewacht und behütet auf ihrer Festlandsi­nsel und bedauerten die Armen und Hungrigen im Fernsehen.

Sie erfanden das Internet, waren an allen Orten der Welt zugleich, doch nur noch selten bei ihrem Nachbarn.

Sie aßen gern Tiere, fünf bis sieben Mal die Woche, ohne sich um die Folgen für die Umwelt zu scheren.

Sie haben den Kalten Krieg begraben und viele neue heiße Konflikte entfacht.

Obwohl sie das Klima beständig anheizten, durften sie sich noch milder Sommer erfreuen, nur selten stieg das Thermomete­r über 40 Grad.

Sie schlossen den sogenannte­n Bund fürs Leben und wechselten noch nicht alle paar Jahre den Partner.

Sie brachten ihre Kinder selbst zur Welt, Leihmütter gab‘s nur im Ausland.

Sie ließen sich alles doppelt und dreifach verpacken und überschwem­mten die Meere mit Plastik.

Sie setzten sich große Klimaziele und schoben diese weit vor sich her.

Sie lebten auf Kosten ihrer Enkel, die es aber nicht merkten, weil sie mit ihren Smartphone­s beschäftig­t waren.

Unsere Enkel, so hofften die Enkel, werden’s schon irgendwann richten.

Tja, keine Ahnung, was man dereinst sagen wird über unsre Tage. Wenigstens können wir schon mal, mit Bertolt Brecht, unsere Nachgebore­nen um Verzeihung bitten:

„ Ihr aber, wenn es so weit sein wird / Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist / Gedenkt unserer / Mit Nachsicht.“

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