Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)
Goethe und die Mörderin, , Schiller und die Bosheit
Kapitalverbrechen waren für die beiden Nationaldichter immer wieder ein großes Thema – und das nicht nur in ihrem schriftstellerischem Werk
Eines der bekanntesten Schriftstücke Goethes umfasst lediglich acht handschriftliche Zeilen. Das ist wahrhaft wenig in einem Nachlass, der ein epochales Lebenswerk umfasst. Und dennoch bergen diese wenigen, im Jahre 1783 verfassten Sätze bis heute verbalen Sprengstoff. Germanisten und Historiker liefern sich mitunter Jahre andauernde Debatten.
Dabei hatte Goethe in seinem Votum lediglich festgehalten, dass Kindsmörderinnen auch künftig mit dem Tode bestraft werden sollen. Diese Haltung ist aus dem Geist der Zeit heraus durchaus nachvollziehbar. Aber sie scheint zugleich diametral zu jenem Mitgefühl zu stehen, mit dem der Dichter im „Faust“die berühmteste Kindsmörderin der Literaturgeschichte – das Gretchen – dargestellt hatte.
Das blutjunge Mädchen war von Faust verführt worden. Während ihrer unehelichen Schwangerschaft muss sie miterleben, wie Nachbarn über eine ledige Mutter herziehen. Gretchen tötet schließlich ihr Neugeborenes und soll deshalb enthauptet werden. Als Faust sie im Kerker besucht, erlebt er sie als reuige Sünderin. Mephisto kommentiert diesen Moment spöttisch: „Sie ist gerichtet!“Daraufhin ertönt aus dem Himmel eine Stimme: „Ist gerettet!“
Tatsächlich hatten an dem Fall der 1783 geköpften Johanna Catharina Höhn bereits Zeitgenossen großen Anstoß genommen. So sprach der in Weimar lebende Intellektuelle Johann Bode ausdrücklich davon, dass ihm die Hinrichtung „nicht als eine Strafe, sondern als ein Staatsmord vorkommt.“Zu den Kritikern gehörte auch ein enger Vertrauter des Dichterfürsten, obgleich dessen Beschwerde einen aus heutiger Perspektive sehr eigenartigen Charme hat.
Ein Jenaer Anatom erhält die Leiche der Mörderin. Er beschwert sich
Zwei Tage nach der Hinrichtung bestätigte der Jenaer Anatom Justus Christoph Loder dem Weimarer Geheimrat Fritsch: „Gestern habe ich wieder eine neue Arbeit durch den Körper der Kindermörderin bekommen.“Allerdings, so wünschte sich Loder, „sie wäre in ihrem Gefängniß nicht so gut genähret worden, so wäre sie zu meinen Demonstrationen brauchbarer.“
Der Anatom wusste zweifelsohne, wovon er sprach. Er war zwar erst 30 Jahre alt, galt aber bereits als einer der begnadetsten „Secirer“in deutschen Landen. Um Studienobjekte musste ihm in jenen Tagen nicht bange sein. Willig kamen die thüringischen Ämter seinen Bittgesuchen nach, ihm „Leichname von Verunglückten und anderen eines ehrlichen Begräbnisses beraubten Personen“zu überlassen.
Als der Professor in Jena schließlich ein „Theatrum anatomicum“einrichtete und dort auch Nichtmediziner in die Geheimnisse des menschlichen Körpers einweihte, brachte ihm das die Gunst Goethe sein. „Loder demonstrirte das menschliche Gehirn einem kleinen Freundes-cir- kel hergebrachter Weise, in Schichten von oben herein“, notierte der faszinierte Goethe.
Häufig zogen sich beide zu gemeinsamen Studien in den Anatomieturm der Universität Jena zurück. Ob Goethe bei dieser Gelegenheit auch an Präparaten der hingerichteten Kindsmörderin gearbeitet hat, ist nicht überliefert. Aber immerhin: Knappe zwei Jahre nach deren Tod hielt Loder in einem Brief fest, dass er den „Cadaver“eines Mädchens konserviert habe „in einem zinnernen Kasten voll Branntwein, worin alles, wie Herr Geh. Rat v. Goethe sagt, in seiner Sauce schwimmt.“
Das Land der Dichter und Denker, ein Land der Richter und Henker
Der Fall der Kindsmörderin Höhn zeigt exemplarisch auf, dass das klassische Weimar nicht nur das Land der Dichter und Denker war, sondern auch eines der Richter und Henker. Natürlich agierte der Dichter Goethe nicht als Richter. Gleichwohl war er als Geheimrat immer wieder mit Kapitalverbrechen und deren Ahndung konfrontiert.
Bereits 1776, in seinem ersten Weimarer Jahr, begleitete er Husaren in den Thüringer Wald. Sie suchten zwischen Arnstadt und Frauenwald nach einer Räuberbande. „Es sollen vier hagere Kerls seyn, einer im rothen Rocke“, informierte Goethe den in Weimar ausharrenden Herzog Carl August.
Auch fünf Jahrzehnte später, im Ruhestand, war Goethes Interesse an Kriminalfällen noch immer groß. Nun freilich gab auch er sich als Kritiker. „Die Straflosigkeit der niederträchtigsten Handlungen“, so klagte er 1827, „haben wir der Läßlichkeit unserer Criminalisten zu danken, welche eigentlich nur berufen und angestellt zu seyn scheinen, um Mord und Todtschlag zu entschuldigen. So ist bey uns die Infamie eines Zahnarztes, der einer jungen verstorbenen Frau im Leichenhause die Zähne heimlich ausbrach, ganz ohne weiteres mit heiler Haut davon gekommen.“
Schiller recherchierte das Leben eines Räuberhauptmanns
Ob Mord oder Totschlag, ob Raubzüge oder Hochverrat – Verbrechen waren auch im literarischen Schaffen von Goethe und Schiller immer wieder ein großes Thema.
Nur wenige Monate nach Schillers Geburt (10. November 1759) war in einem benachbarten Ort ein Räuberhauptmann verurteilt und gerädert worden. Zwei Jahrzehnte später begann der Dichter, die wahre Geschichte dieses Friedrich Schwan zu recherchieren. Er führte anno 1783 lange Gespräche mit dem Sohn jenes Amtmanns, der den Räuber seinerzeit verhört hatte. Zwei weitere Jahre zogen ins Land, dann legte Schiller sein darauf basierendes Werk vor: „Verbrecher aus Infamie“. Das Thema ließ ihn auch künftig nicht los. 1792 überarbeitete Schiller das Stück. Nun trug es den Titel „Verbrecher aus verlorener Ehre“.
Im selben Jahr brach Schiller in aller Öffentlichkeit eine Lanze für das Schreiben von Kriminalgeschichten. Er gab den ersten von vier Bänden mit Kriminalgeschichten heraus und verhalf damit diesem Genre überhaupt erst zu seinem Durchbruch in Deutschland.
Es waren vor allem didaktische Absichten, die Schiller mit seinen „Merkwürdigen Rechtsfällen“verfolgte. Auch deshalb hatte er diese Kriminalfälle mit einem entsprechenden Vorwort versehen. Darin kritisierte er heftig die Lesegewohnheiten seiner Zeit: „Noch immer sind es geistlose, Geschmack- und Sittenverderbende Romane, dramatisierte Geschichten, sogenannte Schriften für Damen und dergleichen, welche den besten Schatz der Lesebibliotheken ausmachen.“Verantwortlich dafür sei auch der „allgemeine Hang der Menschen zu leidenschaftlichen und verwickelten Situationen“.
Kriminalgeschichten lassen tief ins Menschenherz blicken
Es wäre doch eine kluge Idee, so schlussfolgert Schiller, „wenn bessere Schriftsteller sich herablassen möchten, den Schlechten die Kunstgriffe abzusehen, wodurch sie sich Leser erwerben könnten – zum Vortheil der guten Sache.“
Insbesondere vom literarisch verarbeiteten Kriminalprozess, so führte Schiller aus, verspräche er sich einen „wichtigen Gewinn für Menschenkenntnis und Menschenbehandlung“.
Zudem besäßen diese Geschichten stets „den Vorzug der historischen Wahrheit.“Alles in allem erhoffte sich Schiller durch Kriminalgeschichten „tiefere Blicke in das Menschenherz... so enthüllt uns oft ein Kriminalprozeß das Innerste der Gedanken und bringt das versteckteste Gewebe der Bosheit an den Tag.“