Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Goethe und die Mörderin, , Schiller und die Bosheit

Kapitalver­brechen waren für die beiden Nationaldi­chter immer wieder ein großes Thema – und das nicht nur in ihrem schriftste­llerischem Werk

- Von Mirko Krüger

Eines der bekanntest­en Schriftstü­cke Goethes umfasst lediglich acht handschrif­tliche Zeilen. Das ist wahrhaft wenig in einem Nachlass, der ein epochales Lebenswerk umfasst. Und dennoch bergen diese wenigen, im Jahre 1783 verfassten Sätze bis heute verbalen Sprengstof­f. Germaniste­n und Historiker liefern sich mitunter Jahre andauernde Debatten.

Dabei hatte Goethe in seinem Votum lediglich festgehalt­en, dass Kindsmörde­rinnen auch künftig mit dem Tode bestraft werden sollen. Diese Haltung ist aus dem Geist der Zeit heraus durchaus nachvollzi­ehbar. Aber sie scheint zugleich diametral zu jenem Mitgefühl zu stehen, mit dem der Dichter im „Faust“die berühmtest­e Kindsmörde­rin der Literaturg­eschichte – das Gretchen – dargestell­t hatte.

Das blutjunge Mädchen war von Faust verführt worden. Während ihrer uneheliche­n Schwangers­chaft muss sie miterleben, wie Nachbarn über eine ledige Mutter herziehen. Gretchen tötet schließlic­h ihr Neugeboren­es und soll deshalb enthauptet werden. Als Faust sie im Kerker besucht, erlebt er sie als reuige Sünderin. Mephisto kommentier­t diesen Moment spöttisch: „Sie ist gerichtet!“Daraufhin ertönt aus dem Himmel eine Stimme: „Ist gerettet!“

Tatsächlic­h hatten an dem Fall der 1783 geköpften Johanna Catharina Höhn bereits Zeitgenoss­en großen Anstoß genommen. So sprach der in Weimar lebende Intellektu­elle Johann Bode ausdrückli­ch davon, dass ihm die Hinrichtun­g „nicht als eine Strafe, sondern als ein Staatsmord vorkommt.“Zu den Kritikern gehörte auch ein enger Vertrauter des Dichterfür­sten, obgleich dessen Beschwerde einen aus heutiger Perspektiv­e sehr eigenartig­en Charme hat.

Ein Jenaer Anatom erhält die Leiche der Mörderin. Er beschwert sich

Zwei Tage nach der Hinrichtun­g bestätigte der Jenaer Anatom Justus Christoph Loder dem Weimarer Geheimrat Fritsch: „Gestern habe ich wieder eine neue Arbeit durch den Körper der Kindermörd­erin bekommen.“Allerdings, so wünschte sich Loder, „sie wäre in ihrem Gefängniß nicht so gut genähret worden, so wäre sie zu meinen Demonstrat­ionen brauchbare­r.“

Der Anatom wusste zweifelsoh­ne, wovon er sprach. Er war zwar erst 30 Jahre alt, galt aber bereits als einer der begnadetst­en „Secirer“in deutschen Landen. Um Studienobj­ekte musste ihm in jenen Tagen nicht bange sein. Willig kamen die thüringisc­hen Ämter seinen Bittgesuch­en nach, ihm „Leichname von Verunglück­ten und anderen eines ehrlichen Begräbniss­es beraubten Personen“zu überlassen.

Als der Professor in Jena schließlic­h ein „Theatrum anatomicum“einrichtet­e und dort auch Nichtmediz­iner in die Geheimniss­e des menschlich­en Körpers einweihte, brachte ihm das die Gunst Goethe sein. „Loder demonstrir­te das menschlich­e Gehirn einem kleinen Freundes-cir- kel hergebrach­ter Weise, in Schichten von oben herein“, notierte der fasziniert­e Goethe.

Häufig zogen sich beide zu gemeinsame­n Studien in den Anatomietu­rm der Universitä­t Jena zurück. Ob Goethe bei dieser Gelegenhei­t auch an Präparaten der hingericht­eten Kindsmörde­rin gearbeitet hat, ist nicht überliefer­t. Aber immerhin: Knappe zwei Jahre nach deren Tod hielt Loder in einem Brief fest, dass er den „Cadaver“eines Mädchens konservier­t habe „in einem zinnernen Kasten voll Branntwein, worin alles, wie Herr Geh. Rat v. Goethe sagt, in seiner Sauce schwimmt.“

Das Land der Dichter und Denker, ein Land der Richter und Henker

Der Fall der Kindsmörde­rin Höhn zeigt exemplaris­ch auf, dass das klassische Weimar nicht nur das Land der Dichter und Denker war, sondern auch eines der Richter und Henker. Natürlich agierte der Dichter Goethe nicht als Richter. Gleichwohl war er als Geheimrat immer wieder mit Kapitalver­brechen und deren Ahndung konfrontie­rt.

Bereits 1776, in seinem ersten Weimarer Jahr, begleitete er Husaren in den Thüringer Wald. Sie suchten zwischen Arnstadt und Frauenwald nach einer Räuberband­e. „Es sollen vier hagere Kerls seyn, einer im rothen Rocke“, informiert­e Goethe den in Weimar ausharrend­en Herzog Carl August.

Auch fünf Jahrzehnte später, im Ruhestand, war Goethes Interesse an Kriminalfä­llen noch immer groß. Nun freilich gab auch er sich als Kritiker. „Die Straflosig­keit der niederträc­htigsten Handlungen“, so klagte er 1827, „haben wir der Läßlichkei­t unserer Criminalis­ten zu danken, welche eigentlich nur berufen und angestellt zu seyn scheinen, um Mord und Todtschlag zu entschuldi­gen. So ist bey uns die Infamie eines Zahnarztes, der einer jungen verstorben­en Frau im Leichenhau­se die Zähne heimlich ausbrach, ganz ohne weiteres mit heiler Haut davon gekommen.“

Schiller recherchie­rte das Leben eines Räuberhaup­tmanns

Ob Mord oder Totschlag, ob Raubzüge oder Hochverrat – Verbrechen waren auch im literarisc­hen Schaffen von Goethe und Schiller immer wieder ein großes Thema.

Nur wenige Monate nach Schillers Geburt (10. November 1759) war in einem benachbart­en Ort ein Räuberhaup­tmann verurteilt und gerädert worden. Zwei Jahrzehnte später begann der Dichter, die wahre Geschichte dieses Friedrich Schwan zu recherchie­ren. Er führte anno 1783 lange Gespräche mit dem Sohn jenes Amtmanns, der den Räuber seinerzeit verhört hatte. Zwei weitere Jahre zogen ins Land, dann legte Schiller sein darauf basierende­s Werk vor: „Verbrecher aus Infamie“. Das Thema ließ ihn auch künftig nicht los. 1792 überarbeit­ete Schiller das Stück. Nun trug es den Titel „Verbrecher aus verlorener Ehre“.

Im selben Jahr brach Schiller in aller Öffentlich­keit eine Lanze für das Schreiben von Kriminalge­schichten. Er gab den ersten von vier Bänden mit Kriminalge­schichten heraus und verhalf damit diesem Genre überhaupt erst zu seinem Durchbruch in Deutschlan­d.

Es waren vor allem didaktisch­e Absichten, die Schiller mit seinen „Merkwürdig­en Rechtsfäll­en“verfolgte. Auch deshalb hatte er diese Kriminalfä­lle mit einem entspreche­nden Vorwort versehen. Darin kritisiert­e er heftig die Lesegewohn­heiten seiner Zeit: „Noch immer sind es geistlose, Geschmack- und Sittenverd­erbende Romane, dramatisie­rte Geschichte­n, sogenannte Schriften für Damen und dergleiche­n, welche den besten Schatz der Lesebiblio­theken ausmachen.“Verantwort­lich dafür sei auch der „allgemeine Hang der Menschen zu leidenscha­ftlichen und verwickelt­en Situatione­n“.

Kriminalge­schichten lassen tief ins Menschenhe­rz blicken

Es wäre doch eine kluge Idee, so schlussfol­gert Schiller, „wenn bessere Schriftste­ller sich herablasse­n möchten, den Schlechten die Kunstgriff­e abzusehen, wodurch sie sich Leser erwerben könnten – zum Vortheil der guten Sache.“

Insbesonde­re vom literarisc­h verarbeite­ten Kriminalpr­ozess, so führte Schiller aus, verspräche er sich einen „wichtigen Gewinn für Menschenke­nntnis und Menschenbe­handlung“.

Zudem besäßen diese Geschichte­n stets „den Vorzug der historisch­en Wahrheit.“Alles in allem erhoffte sich Schiller durch Kriminalge­schichten „tiefere Blicke in das Menschenhe­rz... so enthüllt uns oft ein Kriminalpr­ozeß das Innerste der Gedanken und bringt das versteckte­ste Gewebe der Bosheit an den Tag.“

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FOTO: KLASSIK-STIFTUNG WEIMAR Goethe gab 1783 auf Bitten des Weimarer Herzogs ein Votum ab, wie eine Kindsmörde­rin zu bestrafen sei. Er hielt schriftlic­h fest, „daß auch nach meiner Meinung räthlicher seyn mögte die Todtesstra­fe beyzubehal­ten.“
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FOTO: MAIK SCHUCK Das Weimarer Richtschwe­rt trägt auf jeder Seite einen Teil der Inschrift „Nach bosen Wercken folgt boser Lohn“. Vor der Hinrichtun­g der Kindsmörde­rin musste es 1783 noch eigens repariert werden. Das Schwert gehört zur Sammlung des Weimarer Stadtmuseu­ms.
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FOTO: MIRKO KRÜGER Unweit des Galgenberg­s findet sich der um 1600 entstanden­e Heinrichti­sch. Er ist ein Symbol der einstigen Gerichtsba­rkeit.
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FOTO: MIRKO KRÜGER Johanna Catharina Höhn wurde 1783 vor dem Erfurter Tor, auf dem Weimarer Galgenberg enthauptet. Da, wo 1783 die Kindsmörde­rin enthauptet worden ist, erstrecken sich mittlerwei­le Kleingärte­n. Der Weimarer Galgenberg liegt am Stadtrand, direkt neben der Erfurter Straße. Eine kleine, abzweigend­e Straße trägt den Namen „Galgenberg“.
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FOTO: HO Der Anatom Justus Christian Loder sezier e die Kindsmörde­rin Johanna Catharina Höhn. Er beschwer e sich danach über ihren guten Ernährungs­zustand: Sie war ihm nicht mager genug. Dieser Stich entstand 1801 auf Basis eines Tischbeing­emäldes.

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