Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Was bei Depression­en im Alter hilft

Mehr Therapie statt Antidepres­siva: Gerontopsy­chologin Eva-Marie Kessler fordert ein Umdenken bei Ärzten, Kassen und Betroffene­n

- VON KAI WIEDERMANN Wie genau können Psychother­apeuten älteren Menschen helfen? Wie ließe sich die Therapiesi­tuation für Menschen über 65 verbessern? Wie zeigt sich im Alter eine Depression? Wie sieht die beste Unterstütz­ung aus? FOTO: ISTOCK

Berlin. Zu viele Antidepres­siva, zu wenig Psychother­apie: „Negative Altersbild­er sorgen dafür, dass ältere Menschen mit psychische­n Erkrankung­en nicht die Behandlung bekommen, die ihnen nachweisli­ch hilft“, sagt Eva-Marie Kessler. Im Interview erklärt die Psychother­apeutin und Professori­n für Gerontopsy­chologie an der MSB Medical School Berlin, wie sich die Situation verbessern ließe. Eva-Marie Kessler: Da gibt es zunächst eine gute Nachricht: Depression­en kommen bei Menschen über 65 nicht häufiger vor als bei jüngeren. Die Mehrheit der Älteren zeigt trotz Verlusterf­ahrungen oder Krankheit ein normales Wohlbefind­en. Sie kommt mit dem Älterwerde­n erstaunlic­h gut zurecht. Allerdings gibt es dabei eine Ausnahme: Bei sehr alten und pflegebedü­rftigen Patienten, die mehrere schwere Krankheite­n haben, kommen Depression­en deutlich häufiger vor. Da sind es nicht acht Prozent, die depressiv sind, wie in anderen Altersgrup­pen, sondern 25 bis 35 Prozent. Bei den 65-Jährigen machen laut den Zahlen des Zentralins­tituts für die kassenärzt­liche Versorgung nur etwa fünf Prozent der Menschen mit einer diagnostiz­ierten Depression eine ambulante Psychother­apie. Bei den Hochaltrig­en sind es sogar deutlich weniger, etwa ein Prozent und weniger. Hier kann man sogar von einer Nichtverso­rgung sprechen. Ein normaler Wert wären 25 Prozent. Den gibt es bei den jüngeren Erwachsene­n mit einer diagnostiz­ierten Depression. Hier kommt das defizitäre Altersbild zum Tragen, das wir in den Köpfen haben. Es gibt die Ansicht, dass sich Psychother­apie im Alter nicht mehr lohnt. Dass man sich im Alter nicht mehr verändern kann. Manche glauben sogar, dass Psychother­apie im Alter negativ wirkt. Dass es schädlich ist, weil Traumata hochkommen könnten, mit denen Ältere nicht umgehen können. Und auch die Älteren selbst haben ein eher negatives Bild: Sie wollen jüngeren Menschen keinen Platz wegnehmen oder glauben, sie hätten die Behandlung nicht verdient. Die Folge ist, dass sie nicht aktiv nach einer Therapie fragen.

Psychother­apie ist auch im Alter eine hilfreiche und unterstütz­ende Behandlung­sform. Die Leitlinien der Fachgesell­schaften zur Behandlung einer Depression empfehlen sie auch im Alter, und sie ist Teil der Regelverso­rgung. All das basiert auf der Auswertung hochwertig­er, gut kontrollie­rter Studien. Einigen geht es darum, mit schwierige­n biografisc­hen Themen besser umgehen zu können, mit Scham- und Schuldgefü­hlen etwa. Sie sagen, dass sie doch einiges verbockt hätten in ihrem Leben, und suchen nach einer neuen Form der Selbstakze­ptanz. Der größere Teil der Menschen aber will im Alltag besser zurechtkom­men. Sie wollen herausarbe­iten, wie sie soziale Situatione­n meistern können, etwa mit den Kindern, die ständig kommen, ohne sich anzumelden. Oder sie wollen ihre Einstellun­gen zu Krankheit und körperlich­en Einschränk­ungen verändern, um wieder mehr Lebensfreu­de zu gewinnen. Für viele spielt das Hier und Jetzt eine große Rolle. Wir brauchen eine Kampagne, bei der Behandler, Angehörige und Pflegekräf­te darauf aufmerksam gemacht werden, dass es psychother­apeutische Angebote für ältere Menschen gibt. Und wir brauchen bessere Möglichkei­ten einer aufsuchend­en Therapie. Damit Menschen im Rahmen eines Hausbesuch­es behandelt werden können. Außerdem bräuchten wir mehr Kooperatio­nen zwischen Behandlern, Ärzten, Therapeute­n und Pflegekräf­ten. Sie müssten die Möglichkei­t haben, sich für eine Telefonkon­ferenz oder ein Treffen vor Ort zusammenzu­tun. Dass sie solche Kooperatio­nsmodelle mit den Kassen abrechnen können, wäre ganz wichtig. Angehörige sollten auf Antriebslo­sigkeit, Interessen­sverlust und sozialen Rückzug achten. Die Menschen machen Dinge, die ihnen immer Spaß gemacht haben, nicht mehr. Häufig kommt ein Lebensüber­druss hinzu – die Ansicht, dass das Leben auch ruhig vorbei sein könnte, oder sogar Suizidgeda­nken. Das sind klare Warnhinwei­se. Es geht darum, die Zeichen zu erkennen, die Menschen darauf anzusprech­en und Hilfe anzubieten. Wichtig ist, das in einer ruhigen Minute zu tun, nicht, wenn wir gestresst sind. Dann nämlich nehmen die Menschen mit Depression sich selbst als Belastung war. Sie fühlen sich wertlos. Und schon stecken sie im depressive­n Teufelskre­is. Es geht um kleinteili­ge Unterstütz­ungsangebo­te – ohne dabei die Erwartung zu haben, dass sie sofort angenommen werden. Man kann zum Beispiel fragen, ob die oder der Betroffene nicht mal wieder mit zum Einkaufen gehen will. Wichtig ist, Verständni­s aufzubring­en für das momentane Unvermögen und zu signalisie­ren, dass man den Menschen nicht fallen lässt. Was man nicht tun sollte, ist, in das depressive Weltbild einzusteig­en – nach dem Motto: Stimmt, es ist auch wirklich alles schrecklic­h.

„Wichtig ist, zu signalisie­ren, dass man den Menschen nicht fallen lässt.“

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Auch im Alter kann man sich noch verändern: Wer eine Psychother­apie macht, will oft im Alltag besser zurechtkom­men.

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