Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)
Junckers Charmeoffensive
EU-Präsident legt Finger in europäische Wunde
Anfang des 20. Jahrhunderts stellte Europa 25 Prozent der Weltbevölkerung, heute sind es noch knapp sieben Prozent. Geht die demografische Entwicklung so weiter, könnten es bald nur noch vier Prozent sein. Es ist nur ein Gedanke von vielen, mit denen Jean-Claude Juncker den Zustand Europas beschreibt – und die damit verbundenen Herausforderungen. Als EU-Präsident könne er leider kein Libido-Programm aufsetzen – auch wenn dies mit dem Erasmus-Austauschprogramm für junge Leute in Ansätzen gelinge. Ungeachtet derartiger launiger Anmerkungen legt der EUChef damit aber den Finger in die Wunde: Demografisch befindet sich Europa auf dem absteigenden Ast. Auch wirtschaftlich machen ihm andere Weltregionen den alten Rang streitig. Junckers Rede mit vielen freundlichen Avancen an Thüringen ist also nicht nur Charmeoffensive vor einer Preisverleihung, sondern vor allem beschwörender Appell an die Einheit und Geschlossenheit der EU. Die Zukunft des kleinen Europa steht und fällt auch mit der sozialen Frage. Es nützt wenig, wenn die EU-Staaten gern mal die gemeinsamen europäischen Werte besingen. Im Fußball-Jargon würde man sagen: Entscheidend ist auf dem Platz. Ein einheitliches Europa setzt vergleichbare Lebensverhältnisse und eine neue grenzüberschreitende europäische Solidarität voraus. Nicht zu vergessen ein gleiches Maß an Verantwortung für globale Probleme von der Migration bis zum Klima. Wenn es konkret wird, macht in Europa bisher oft jeder seins. Auch dazu wurde Juncker deutlich: Wer sagt, Europa kann mich mal, der ist auch Europa irgendwann egal.