Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Wer hilft uns, wenn wir alt sind?

Wie in Suhl das Modell einer selbst organisier­ten Solidargem­einschaft einen Weg aus der demografis­chen Sackgasse bietet

- VON ELENA RAUCH

Ihre Donnerstag­vormittage verbringt die pensionier­te Zahnärztin Barbara Friedrich als Haushaltsh­ilfe: Wäsche waschen, bügeln, Flur und Treppe wischen, Staubsauge­n. Ihr 80jähriger Klient kann nach einem Schlaganfa­ll nicht mehr sicher gehen. Ohne Barbara Friedrichs Hilfe müsste er wahrschein­lich seine Wohnung aufgeben.

Der einstige Versicheru­ngsberater Peter Höhn fährt einmal in der Woche in ein Pflegeheim, wo er Zeit mit einem Bewohner verbringt. Sie reden über Alltäglich­es, oder von früher, manchmal läuft der Fernseher, dann werten sie das Programm aus. Die Gespräche gestalten sich manchmal schwierig, der Pflegeheim­bewohner leidet an Demenz. Aber der Familie sind diese wöchentlic­hen Treffen wichtig, weil seine Welt sonst noch enger wäre. Peter Höhn fährt außerdem regelmäßig eine ältere Dame zum Einkaufen oder zu Arzttermin­en. Alle, die Helfenden und die diese Hilfe empfangen, sind Mitglieder eines Vereins: Senioren helfen Senioren in Suhl und Zella-Mehlis. Für eine Fahrdienst­stunde von Peter Höhn zahlt die ältere Dame zehn Euro an den Verein. Der behält zwei davon, die restlichen acht Euro erhält Peter Höhn für seine Hilfe. Eine Stunde Besuchsdie­nst oder Haushaltsh­ilfe kostet acht Euro, auch hier landen je zwei Euro in der Vereinskas­se. Barbara Friedrich lässt sich das Geld für ihre Hilfe auszahlen. Peter Höhn nicht, er spart es beim Verein an. Als Guthaben für später, sollte er einmal vom Hilfsanbie­ter zum Hilfsempfä­nger werden. Im Monat kommt er auf acht bis zehn Hilfsstund­en. Eine Investitio­n für die Zeit, wenn er selber einmal Hilfe braucht. Damit wäre auch schon das Prinzip eines Modells umrissen, das als „Seniorenge­nossenscha­ft“bekannt ist. Senioren, die fit genug sind und Zeit haben, helfen anderen Senioren und sparen sich dabei ein Guthaben für später an. Das unterschei­det das Modell von ehrenamtli­chen Nachbarsch­aftshilfen. Was einst an Hilfe für einen selbst zurückkomm­t, ist nicht an das Prinzip Hoffnung gebunden.

Eine Antwort auf die Frage, wie sich eine alternde Gesellscha­ft so organisier­t, dass Menschen möglichst lange möglichst selbstbest­immt in ihren eigenen vier Wänden bleiben können. Keine allein gültige Antwort, aber eine von vielen möglichen Antworten.

Eine sich selbst organisier­ende Solidargem­einschaft, deren Ur-Idee in den USA entstanden ist. In Deutschlan­d gibt es inzwischen mehr als 200 Vereine und Genossensc­haften, die darauf zurückgehe­n. Die meisten in Baden-Württember­g und Bayern, die wenigsten im deutschen Osten. Die einen arbeiten mit Zeitpunkte­n, andere mit Geld. Mit der in Weimar gegründete­n Genossensc­haft (siehe „Die demografis­che Falle“) ist der Suhler Verein bislang der Einzige in Thüringen.

Ein winziges Zimmer in einem Bürohaus in Suhl. Ein Schreibtis­ch, ein paar Akten im Schrank, ein Fensterbli­ck zum Innenhof. Hier befindet sich die Schaltzent­rale des Vorreiters im Freistaat. Viel mehr, sagt Projektlei­terin Ingrid Mitschke, brauchen wir zum Glück auch nicht. Das Wichtigste sind Handy und Auto.

Begonnen hatte alles vor gut fünf Jahren, als Ingrid Mitschke, Betriebsök­onomin von Beruf, bei einem städtische­n Bildungstr­äger das Projekt „Seniorenge­nossenscha­ft“übernahm. Damals ging es nur darum, herauszufi­nden was das überhaupt ist und wie es funktionie­rt.

Ingrid Mitschke, heute 63 Jahre alt, hatte lange ihre Mutter gepflegt, sie hatte zum Thema einen persönlich­en Draht. Außerdem fand sie die Idee spannend und das Anliegen zwingend. Die Gesellscha­ft wird älter, die demografis­chen Statistike­n sind bekannt. Gleichzeit­ig ist die Großfamili­e, die Betreuung und Hilfe einst aufgefange­n hat, ein Auslaufmod­ell.

Sie fuhr nach Riedlingen, ein schwäbisch­es Städtchen, wo vor mehr als 20 Jahren der deutsche Prototyp der Seniorenge­nossenscha­ft gegründet wurde. So mancher Reporter feiert bis heute euphorisch das Modell: In Riedligen haben sie die Demografie­Falle gelöst. So ganz falsch ist es ja auch nicht. Allerdings ist Baden-Württember­g nicht Thüringen, in Riedlingen besitzt die Genossensc­haft inzwischen sogar eigene Immobilien. Ingrid Mitschke hatte schnell begriffen, dass sie in Suhl kleinere Brötchen backen würden.

2014 gründete Ingrid Mitschke mit einer Handvoll Mitstreite­rn den Verein, inzwischen zählt er mehr als 320 Mitglieder. Etwa 40 Prozent haben sich wie Barbara Friedrich gemeldet, weil sie Unterstütz­ung anbieten möchten. Die Jüngsten sind Mitte 50, die Ältesten gehen auf die

80. Die Hilfen betreffen im Grunde alles, was den Alltag ausmacht: Fahrdienst, kleine Reparature­n, der Schnitt der Hecke vor dem Haus, Hilfe mit Computer und Handy, oder mit Behörden und Anträgen. Nur Pflegen dürfen die Vereinsmit­glieder nicht, das ist profession­ellen Diensten vorbehalte­n.

Zunehmend fragen Angehörige von Demenzkran­ken an. Dann geht es um etwas Zeit und Gesellscha­ft, damit die pflegenden Angehörige­n etwas Luft bekommen. Ein schwierige­s Thema, bemerkt Ingrid Mitschke. Noch immer schambehaf­tet, viele sprechen nicht gern darüber, als ob die Demenz ihres Ehepartner­s oder der Eltern ein Stigma sei. Es gibt, vermutet sie, eine hohe Dunkelziff­er von Menschen, die Angehörige pflegen und sich keinerlei Hilfe von außen holen. So wie Peter Höhn lässt etwa jedes zweite Vereinsmit­glied, das Hilfe leistet, das dafür erhaltene Geld auf dem Konto stehen. Wir hatten, so Projektlei­terin Mitschke, bereits Fälle, in denen das Angesparte in Hilfe umgesetzt wurde: Fahrtstund­en gegen Unterstütz­ung am PC.

Rund 10.000 Euro hatte der Verein im vergangene­n Jahr erwirtscha­ftet. Das ist nicht schlecht, gemessen an der schwierige­n Anfangszei­t. Aber noch zu wenig, um sich selbst zu tragen. Ohne die Förderung aus dem Thüringer Sozialmini­sterium und der Kommune ginge es gar nicht. Denn, so die Erfahrung, jemand muss da sein, der profession­ell die Fäden in der Hand hält, der die Abrechnung­en erledigt, die Hilfen koordinier­t, die Menschen zusammenbr­ingt. Außerdem lädt der Verein regelmäßig zu Treffen ein, die wollen auch vorbereite­t werden. Ein solches Projekt ist im Ehrenamt nicht zu stemmen, bemerkt Ingrid Mitschke.

Das glaubt man sofort. Gerade erst hat das Telefon geklingelt. In der Leitung eine Seniorin, die in Zella-Mehlis in einer betreuten Wohnung lebt. Sie möchte gern dem Verein beitreten, weil sie Hilfe braucht. Ingrid Mitschke wird sie besuchen, ihre Bedürfniss­e erfragen und ihre Lebensumst­ände und dann aus dem Mitglieder­pool einen passenden Helfer finden.

Sicher könnte die ältere Dame die Leistungen auch bei profession­ellen Anbietern erhalten. Allerdings beginnen da die Kosten für eine Stunde Haushaltsh­ilfe bei 25 Euro, rechnet Projektlei­terin Mitschke vor. Lange nicht jeder Rentner kann sich das leisten.

Soweit die buchhalter­ischen Aspekte. Doch nicht sie allein erklären die Stärken dieses Modells. Eine Solidargem­einschaft wie diese füllt den plötzlich vorhandene­n Überfluss an Zeit nach dem Arbeitsleb­en mit Inhalt und Sinn. Und sie kann vor Einsamkeit bewahren.

Die Zahnärztin Barbara Friedrich zum Beispiel hat in ihrer Praxis gearbeitet bis sie 71 wurde. Es fand sich, erzählt sie, einfach niemand, der sie übernehmen wollte. Ihre Tochter, auch Ärztin, lebt weit weg im Allgäu. Diese Arbeit im Verein erlaubt es, mit der eigenen Erfahrung und der Energie etwas Sinnvolles zu tun. Eine Arbeit, die dringend gebraucht und dankbar angenommen wird. Mit einer Seniorin, der sie im Haushalt half, ist sie inzwischen so gut befreundet, dass sie zusammen im Urlaub waren.

Und nein, sie hat kein Problem damit, dass sie jetzt als Ärztin für andere die Wohnung putzt. Eher haben die anderen Scheu, diese Hilfe von ihr anzunehmen. Seit sie das weiß, lässt sie bei der Vorstellun­g den „Doktor“einfach weg.

Wer heute hilft, dem wird morgen geholfen

Ein Weg aus der Einsamkeit­sfalle

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SYMBOL-FOTO: FELIX KÄSTLE/DPA Die alternde Gesellscha­ft sucht Wege, wie Menschen möglichst lange selbstbest­immt leben können. Seniorenge­nossenscha­ften sind einer von vielen Ansätzen.
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FOTO: ELENA RAUCH Ingrid Mitschke ist Initiatori­n und Projektlei­terin des Vereins in Suhl.

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