Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Der letzte Hoffnungst­räger

Wolfgang Tiefensee will noch unentschlo­ssene Thüringer überzeugen und den weiteren Absturz der SPD verhindern

- VON ELMAR OTTO

Erfurt. Der Himmel über Arnstadt ist tief grau, es ist herbstlich kalt. Aber zumindest der Dauerregen macht gerade eine Pause. Wolfgang Tiefensee hat die Hände tief in den Taschen seiner schwarzen Jacke vergraben. Das Kopfsteinp­flaster vor dem Hopfenbrun­nen ist nass. Es gibt schönere Tage, um mit Bürgern über Politik ins Gespräch zu kommen.

Der SPD-Spitzenkan­didat lässt sich von den Widrigkeit­en des Wetters nicht aus dem Konzept bringen. Gerade noch hat er sich länger mit einem Ehepaar unterhalte­n, die die heimischen Genossen von der örtlichen AfD kennen. Manche Parteifreu­nde halten das für Zeitversch­wendung. Tiefensee dagegen ist davon überzeugt, dass es besser ist, sich mit ihnen auseinande­rzusetzen. Trotz einer Politik, die aus seiner Sicht die Gesellscha­ft spaltet, rückwärtsg­ewandt ist und Menschen herabwürdi­gt. „Ich rede prinzipiel­l mit jedem. Wenn er mir nicht gerade die Faust ins Gesicht schlägt“, sagt er. Der Mann ist offenbar Überzeugun­gstäter. Oder leidensfäh­ig. Oder beides.

Während seiner „Dialogsuch­ertour“quer durch Thüringen vor der Landtagswa­hl am 27. Oktober hört Tiefensee aufmerksam zu. Es gibt viel Kritik über befristete Arbeitsver­hältnisse, zu geringen Lohn oder die unzureiche­nde Altersvers­orgung, aber oft auch Zustimmung. Wie von der Arnstädter Rentnerin, die offen sagt: „Das passt alles, ich bin zufrieden.“

Dumm nur, dass sich diese Zufriedenh­eit für die SPD nicht ansatzweis­e in Wählerstim­men niederschl­ägt. „Ich vertraue darauf, dass wir diese Talsohle durchschre­iten, dass wir die restliche Zeit nutzen, um die vielen, die noch unsicher sind, auf unsere Seite zu ziehen“, sagt Tiefensee dann im Brustton der Überzeugun­g. Der Mann, der seit knapp fünf Jahren in Thüringen jetzt als Wirtschaft­sminister arbeitet, will sich am Ende nicht vorhalten lassen, nicht alles versucht zu haben. Dabei erscheint es durchaus paradox, dass jemand, dessen politische­r Zenit bereits überschrit­ten schien, in Thüringen jetzt zum letzten Hoffnungst­räger der SPD avanciert ist. Einer Partei, die in den Umfragen historisch­e Tiefststän­de einfährt.

Andere Leute in seinem Alter würden sich auf die sichere Pension vorbereite­n. Aber Tiefensee ereilte der Ruf aus der Heimat zum richtigen Zeitpunkt, als seine bundespoli­tische Laufbahn eher Richtung Abstellgle­is tendierte.

Dass Tiefensee 1955 einst in Gera geboren wurde, hatten viele gar nicht mehr in Erinnerung. Seine Familie zieht dann nach Leipzig. Er wird katholisch erzogen, geht nicht zu den Jungen Pionieren oder der FDJ, verweigert den Dienst an der Waffe. Gleichwohl macht er Abitur, wird Diplominge­nieur. Im Herbst 1989 engagiert er sich bei der Bürgerbewe­gung „Demokratie Jetzt“, sitzt am Runden Tisch. Kommt anschließe­nd zur SPD.

Nach der Wende arbeitet er zunächst als Amtsleiter und Bürgermeis­ter in Leipzig. 1998 bis 2005 ist er Oberbürger­meister. Erreicht größere Bekannthei­t, weil er bei der Olympiabew­erbung medienwirk­sam Cello spielt und durch prestigetr­ächtige Ansiedlung­en großer Konzernen, auch wenn die maßgeblich vom Land angeschobe­n wurden.

Der weitere Aufstieg ist programmie­rt. 2005 wird er Bundesverk­ehrsminist­er und Ostbeauftr­agter im ersten Kabinett von Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Doch beim Ausflug auf die bundespoli­tische Bühne macht er keine souveräne Figur. Die gescheiter­te Bahn-Privatisie­rung geht mit ihm nach Hause. Erfolg sieht anders aus. Sein Image ist ramponiert. Nach dem Ende der großen Koalition 2009 wird er einfacher Bundestags­abgeordnet­er und bei der erneuten Regierungs­beteiligun­g der SPD nicht mehr für ein Ministeram­t berücksich­tigt.

Als der damalige Thüringer SPD-Vorsitzend­e Andreas Bausewein 2014 einen Wirtschaft­sminister für die rot-rot-grüne Koalition braucht, wird Tiefensee gefragt und lässt sich diese Chance nicht entgehen. Auch wenn der Wechsel in die politische Provinz als Abstieg belächelt wird, beweist Tiefensee Biss, wenn es darauf ankommt. Als Bausewein 2017 als SPDChef das Handtuch wirft, setzt sich Tiefensee gegen innerparte­iliche Konkurrenz durch. Auch die Spitzenkan­didatur lässt er sich nicht mehr nehmen. Und nun?

Kämpft Tiefensee für die Fortsetzun­g von Rot-Rot-Grün und ärgert sich über die schlechte Performanc­e der Bundes-SPD, die durch Personalde­batten Inhalte schwer vermittelb­ar macht. Und manchmal auch über Ministerpr­äsident Bodo Ramelow. Vor allem wenn der Linke mit Themen wie einer neuen Nationalhy­mne oder der DDR-Unrechtsst­aats-Debatte die Schlagzeil­en dominiert. „Das sind doch nicht die Probleme, die wir jetzt haben“, winkt Tiefensee dann nur ab.

Der oberste Sozi im Freistaat belegt den Demoskopen zufolge bei Beliebthei­t und Bekannthei­t Spitzenwer­te, die nur vom Regierungs­chef übertroffe­n werden, und versucht seine Ministerbi­lanz für seine Partei zu nutzen: Die Arbeitslos­igkeit in Thüringen sei niedriger als in Hamburg und dem Saarland. Bei den Industriea­rbeitsplät­zen habe man Nordrhein-Westfalen, Hessen und Niedersach­sen überholt.

Aber Tiefensee weiß auch, dass es jede Menge zu tun gibt. Noch immer ist das Lohnniveau mit das niedrigste in Deutschlan­d. Viele Thüringer sind im Alter arm oder von Altersarmu­t bedroht. Deshalb kämpft er für einen höheren Mindestloh­n und hofft, dass sich die Bundesregi­erung noch vor dem Wahltag auf eine Grundrente einigt.

Auch die Schulen gleichen bei allen Bemühungen und Lehrereins­tellungen einer Dauerbaust­elle. Immer noch fallen viel zu viele Unterricht­sstunden aus.

Arbeit, Bildung, Versöhnung von Stadt und ländlichem Raum sowie Demokratie sind deshalb die Kernthemen, mit denen die SPD auf den letzten Metern noch punkten will. Doch die Umfragen sehen sie zwischen sieben und neun Prozent. Damit ist Rot-Rot-Grün ungewiss. „Es sei schwer sich gegen diejenigen durchzuset­zen, die mit einfachen Schlagwort­en kommen“, sagt Tiefensee.

Als Bundesmini­ster hat man ihm mitunter vorgeworfe­n, sich die Lage schön zu reden. Das kann man inzwischen nicht mehr behaupten.

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FOTO: SASCHA FROMM Für die Thüringer SPD ist es fünf vor zwölf. Spitzenkan­didat Wolfgang Tiefensee bleibt trotzdem optimistis­ch.

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