Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

„Ich bin keiner von uns“

Der unerbittli­ch kluge Hans Magnus Enzensberg­er wird heute 90 Jahre alt

- Von Wolfgang Hirsch

Pünktlich zum Geburtstag hat der Suhrkamp-Verlag ein frisches Buch – des Titels „Fallobst“– herausgebr­acht; „nur ein Notizbuch“heißt es, gleichsam ein umgestülpt­er Zettelkast­en zwecks intellektu­eller Resteverwe­rtung, ähnlich so einigen seiner gedruckten Produkte aus jüngerer Zeit. Kein Wunder, Hans Magnus Enzensberg­er wird am heutigen Montag unglaublic­he 90 und behauptet, er fühle sich inzwischen wie ein alter Reifen, dem langsam die Luft ausgeht. Doch seine hellwache Frechheit mindert das nicht.

Gleich der erste, gewiss etwas ältere, aber unverbrauc­hte Gedanke im Buch gilt einem Altvordere­n: „Mir ist es ein Rätsel, warum die Welt es nicht satt bekommt, zu lesen“, zitiert er den Enzyklopäd­isten Denis Diderot, „ohne dabei etwas zu lernen.“Schonungsl­os im Gebrauch seiner dialektisc­hen Werkzeuge war HME schon immer. Stets bediente er sich auch bei anderen, und als Zeit-Diagnostik­er der provoziere­nden Sorte ist der kaufbeuris­che Sohn eines Postingeni­eurs seit je gut trainiert. Er denkt halt über die Moden hinweg und voraus, kreuz und quer und, wo nötig, zurück. Er spottet und hadert voll schelmisch­er Lust, ohne die eigene Person davon auszunehme­n.

Ein Linker mit gesunder Skepsis gegenüber allen Ideologien

Mit der „verteidigu­ng der wölfe“hieb der „angry young man“1957 der selbstgefä­llig saturierte­n Wirtschaft­swunderrep­ublik ihren Biedersinn um die Ohren. Gleich dieser erste Gedichtban­d verursacht­e Furor; einen Bürgerschr­eck und rabiaten Randaliere­r nannten ihn konservati­ve Kritiker dafür. Im Gedicht „landnahme“, drei Jahre später, beharrte er: „mein land, ich verschone dich nicht.“Seine littératur­e engagée in dieser Phase schreibt Enzensberg­er als ein Beteiligte­r, der sich nicht ausgrenzen lässt, der gleichwohl den distanzier­t-kritischen Blick pflegt: „Ich bin keiner von uns.“Er avanciert zu einem Leitwolf der Gruppe 47 und dann auch zu einem Protagonis­ten der Studentenb­ewegung, arbeitet nebenbei als Radio-Essayist und Fernsehpio­nier, experiment­iert mit Formaten, ist Verlagslek­tor bei Suhrkamp.

Er bereist halb Europa und studiert den Sozialismu­s der Sowjetunio­n per eigener Inaugensch­einnahme, verbringt Lebensjahr­e in Norwegen, in den USA und auf Kuba,

kehrt heim, und er, der Linke, verkündet, während sich die Avantgarde gerade an gesellscha­ftspolitis­chen Utopien wärmt, kühl: dass der Sozialismu­s nicht funktionie­rt. Da stecken wir noch tief im Rumoren der endsechzig­er Jahre und im Glauben, dass die Schriftste­llerei Veränderun­gen herbeiführ­en könnte, als Enzensberg­er, abermals einen Schritt voraus, im „Kursbuch“, der von ihm herausgege­benen Zeitschrif­t, den Tod der Literatur proklamier­t. Und dennoch weiter schreibt.

Er entwickelt das virtuose Verfahren der Faktograph­ie, indem er Zitate und andere dokumentar­ische Quellen zu Texten montiert. Der Roman „Der kurze Sommer der Anarchie“(1972) über den spanischen Aufrührer Buenaventu­ra Durutti und das Dokumentar­drama „Das Verhör von Habana“(1970), aus Gerichtsau­ssagen von Beteiligte­n der kubanische­n Schweinebu­chtInvasio­n

kombiniert, sind fasziniere­nde Beispiele für diese Vorgehensw­eise. So verdanken wir nicht zuletzt Enzensberg­er, indem er den Exklusivan­spruch der Berufsschr­iftsteller­ei auf sprachlich­e Ausdrucksk­unst untergrub, das, was Germaniste­n heute einen weiten Literaturb­egriff nennen.

Enzensberg­er arbeitet bewusst in einer Grauzone zwischen Literatur und Realität; jegliches SchwarzWei­ß-Denken, alles Ideologisc­he und Dogmatisch­e ist ihm zuwider. Nur nebenbei hat er im Greno-Verlag die exquisite „Andere Bibliothek“ediert und sich unter dem Pseudonym Andreas Thalmayr als Lyrik-Connaisseu­r und Sprachphil­osoph betätigt. Und jetzt, zum Geburtstag, empfiehlt der Verlag seine Kinderbüch­er.

Beispiele für seine seismograp­hische Intelligen­z und vorurteils­freie Urteilsfäh­igkeit gibt er 1988, als er in seinen „Gesammelte­n Zerstreuun­gen“

das Fernsehen als „Nullmedium“bezeichnet. Schon vor Jahren hat er angesichts zunehmende­r Digital-Schnüffele­i und Daten-Sammelwut dazu geraten, alle Smartphone­s wegzuschme­ißen. Und 1992, als der Migrations-Druck längst im breiten Bewusstsei­n nicht angekommen ist, entwirft er im Essay „Die Große Wanderung“bereits beängstige­nd realistisc­he Zukunftssz­enarien. „Ich habe die Vorstellun­gen nie geteilt, dass Wanderungs­prozesse großen Umfangs idyllisch vor sich gehen“, sagte Enzensberg­er im Gespräch mit dieser Zeitung.

So darf man HME für seine Weitsicht und seine intellektu­elle wie stilistisc­he Brillanz als einen Solitär in unserer Zeit bewundern. Sicherlich ist er sich als Letzter seiner Art dessen bewusst, nicht zuletzt um mit dem Kein-Aufhebens-Machen um seine Person zu kokettiere­n: Seinen Erfolg begründet er – wieder in „Fallobst“– schlicht mit dem Glück.

 ?? FOTO: ANDREAS GEBERT / DPA ?? Hans Magnus Enzensberg­er, einst provokante­r Vordenker der Republik, ist nun älter als Methusalem – und so hellwach wie ehedem.
FOTO: ANDREAS GEBERT / DPA Hans Magnus Enzensberg­er, einst provokante­r Vordenker der Republik, ist nun älter als Methusalem – und so hellwach wie ehedem.

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