Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)
Techniken der Empfindsamkeit
In Andris Plucis’ umjubelter Choreografie „Petruschka/Boléro“am Landestheater Eisenach wird die Puppe menschlich und der Mensch zur Puppe
Hier trifft sich was. Hier trifft uns was. Eine ursprünglich als Klavierkonzert angelegte Ballettmusik begegnet einem mal fürs Ballett geplanten Orchesterwerk: hier Strawinskys expressionistische „Petruschka“-Burleske, dort Ravels anschwellende „Boléro“-Ekstase.
Bis in die Pause hinein mag man einen Doppelabend vermuten. Andris Plucis aber choreografiert „Petruschka/Boléro“: ein Ballett mehr in zwei Akten als Teilen, die einander spiegeln. Ravel wird Strawinskys dunkle Seite. Dafür lässt Plucis den konkreten „Petruschka“abstrakter, den abstrakten „Boléro“konkreter werden.
So gelingt eine erstaunlich zwingende Choreografie, geboren aus dem ambivalenten Geist der Moderne, die durchaus nicht zusammen zwingt, was nicht zusammen gehörte. Sie stellt verwandtschaftliche Nähe her: über einen gemeinsamen Bewegungsapparat, der mechanische Menschen und menschliche Mechanismen untersucht.
„Petruschka“holt Puppentheater ins Ballett: Petruschka ist der russische Kasper. Der Gaukler und Zauberer haucht ihm, sowie Ballerina und Mohr, auf dem Jahrmarkt Leben ein: im direkten oder übertragenen Sinn. Ob er die Gliederpuppen am langen Faden führt oder sie sich lösen, ist Teil des Spiels. Petruschka liebt Ballerina, Ballerina schmachdenden
Szene aus Strawinskys „Petruschka“in Eisenach.
tet Mohr an, Mohr und Petruschka hassen sich. Ein Kampf um und mit Empfindungen, bis aufs metaphorische Blut. Ihr Sein, Puppe oder Mensch, verwirrt ihr Bewusstsein.
Das setzt sich im Corps de ballet fort. Vor Dirk Seesemanns Bühnenprospekt, der an die Geometrie eines Kandinsky-Bildes erinnert, ringt die Masse Mensch in auslaBewegungen um Techniken der Empfindsamkeit. Dabei löst sich die Handlung auf in ein Nummernprogramm ungelenker Gelenkigkeit. Kaum pantomimisch, nie illustrierend, lässt Plucis Puppenmenschen tanzen, denen Danielle Jost Gaukler-Uniformen verpasste.
Die x-beinig schlenkernde Menschenpuppe Petruschka durchlebt körperlichen und seelischen Schmerz. Eine Frau (Viviana Jakovleski) tanzt das Kerlchen; sein Geschlecht schillert. Mohr wird Herr Mor (Filip Clefos); aus dem schwarzen Klischee ein stolzierender Weißclown, für den es Karin Hondas Ballerina auf die Spitze treibt.
Petruschka stirbt – und erwacht im „Boléro“, in dem auch Mor, Ballerina
und ein(e) Conférencier (Laura Heise) als Schatten ihrer Leidenschaften neu auftauchen: in einer kraftvoll melancholischen Gruppenchoreografie mit lauter Soli. Das führt uns mittels drehbarer roter Wand vor und hinter die Fassade mechanischer Gefühle. Da entpuppt und da beseelt sich was.
„Petruschka/Boléro“ist ein so interessanter wie berührender Abend, zutiefst menschlich und zu Recht bejubelt. Markus Huber und die Thüringen Philharmonie begleiten ihn nicht nur souverän; sie sorgen dafür, dass er als Ballett und Konzert zugleich funktioniert.