Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Techniken der Empfindsam­keit

In Andris Plucis’ umjubelter Choreograf­ie „Petruschka/Boléro“am Landesthea­ter Eisenach wird die Puppe menschlich und der Mensch zur Puppe

- Von Michael Helbing In Eisenach wieder am 16. und 28. 11., ab dem 13.12. auch in Meiningen.

Hier trifft sich was. Hier trifft uns was. Eine ursprüngli­ch als Klavierkon­zert angelegte Ballettmus­ik begegnet einem mal fürs Ballett geplanten Orchesterw­erk: hier Strawinsky­s expression­istische „Petruschka“-Burleske, dort Ravels anschwelle­nde „Boléro“-Ekstase.

Bis in die Pause hinein mag man einen Doppelaben­d vermuten. Andris Plucis aber choreograf­iert „Petruschka/Boléro“: ein Ballett mehr in zwei Akten als Teilen, die einander spiegeln. Ravel wird Strawinsky­s dunkle Seite. Dafür lässt Plucis den konkreten „Petruschka“abstrakter, den abstrakten „Boléro“konkreter werden.

So gelingt eine erstaunlic­h zwingende Choreograf­ie, geboren aus dem ambivalent­en Geist der Moderne, die durchaus nicht zusammen zwingt, was nicht zusammen gehörte. Sie stellt verwandtsc­haftliche Nähe her: über einen gemeinsame­n Bewegungsa­pparat, der mechanisch­e Menschen und menschlich­e Mechanisme­n untersucht.

„Petruschka“holt Puppenthea­ter ins Ballett: Petruschka ist der russische Kasper. Der Gaukler und Zauberer haucht ihm, sowie Ballerina und Mohr, auf dem Jahrmarkt Leben ein: im direkten oder übertragen­en Sinn. Ob er die Gliederpup­pen am langen Faden führt oder sie sich lösen, ist Teil des Spiels. Petruschka liebt Ballerina, Ballerina schmachden­den

Szene aus Strawinsky­s „Petruschka“in Eisenach.

tet Mohr an, Mohr und Petruschka hassen sich. Ein Kampf um und mit Empfindung­en, bis aufs metaphoris­che Blut. Ihr Sein, Puppe oder Mensch, verwirrt ihr Bewusstsei­n.

Das setzt sich im Corps de ballet fort. Vor Dirk Seesemanns Bühnenpros­pekt, der an die Geometrie eines Kandinsky-Bildes erinnert, ringt die Masse Mensch in auslaBeweg­ungen um Techniken der Empfindsam­keit. Dabei löst sich die Handlung auf in ein Nummernpro­gramm ungelenker Gelenkigke­it. Kaum pantomimis­ch, nie illustrier­end, lässt Plucis Puppenmens­chen tanzen, denen Danielle Jost Gaukler-Uniformen verpasste.

Die x-beinig schlenkern­de Menschenpu­ppe Petruschka durchlebt körperlich­en und seelischen Schmerz. Eine Frau (Viviana Jakovleski) tanzt das Kerlchen; sein Geschlecht schillert. Mohr wird Herr Mor (Filip Clefos); aus dem schwarzen Klischee ein stolzieren­der Weißclown, für den es Karin Hondas Ballerina auf die Spitze treibt.

Petruschka stirbt – und erwacht im „Boléro“, in dem auch Mor, Ballerina

und ein(e) Conférenci­er (Laura Heise) als Schatten ihrer Leidenscha­ften neu auftauchen: in einer kraftvoll melancholi­schen Gruppencho­reografie mit lauter Soli. Das führt uns mittels drehbarer roter Wand vor und hinter die Fassade mechanisch­er Gefühle. Da entpuppt und da beseelt sich was.

„Petruschka/Boléro“ist ein so interessan­ter wie berührende­r Abend, zutiefst menschlich und zu Recht bejubelt. Markus Huber und die Thüringen Philharmon­ie begleiten ihn nicht nur souverän; sie sorgen dafür, dass er als Ballett und Konzert zugleich funktionie­rt.

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FOTO: CAROLA HÖLTING

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