Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

„Hau ab, Diktator“

Erst nach Tagen räumt Iran den Abschuss einer Boeing ein. Proteste gegen das Mullah-Regime flammen wieder auf

- Von Martin Gehlen

Erklärung: Boris Johnson (l.), Angela Merkel und Emmanuel Macron.

Die Familien der Opfer können es nicht fassen. Weltweit herrscht Empörung und Kopfschütt­eln über das Verhalten des Iran nach der Flugzeugka­tastrophe von Teheran. Im Land gingen am Wochenende in vielen Städten die Menschen auf die Straße, aufgebrach­t über die dreisten Vertuschun­gsversuche und das späte Geständnis der eigenen Führung, dass die ukrainisch­e Boeing 737-800 durch eine iranische Rakete getroffen wurde.

„Tod den Lügnern“, skandiert die aufgebrach­te Menge

Drei Tage lang hatten die Verantwort­lichen alles abgestritt­en. In großer Hast wurde versucht, die Absturzste­lle von den Spuren des Geschosses zu reinigen. Am Samstag früh kam dann die Wende, ausgelöst durch den wachsenden internatio­nalen Druck: Präsident Hassan Rohani und Außenminis­ter Mohammad Javad Zarif erklärten, die Revolution­ären Garden hätten die Maschine kurz nach dem Start irrtümlich angegriffe­n. „Das ist eine große Tragödie und ein unverzeihl­icher Fehler“, twitterte Rohani. Zarif entschuldi­gte sich bei den Angehörige­n. Er wies aber auch dem „Abenteurer­tum der USA“in der Region eine Mitschuld zu. Der Oberste Revolution­sführer Ali Chamenei forderte die Streitkräf­te auf, sich dem eigenen Versagen zu stellen.

„Dieser Morgen war nicht angenehm, aber er brachte die Wahrheit.“Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine

Noch vor einer Woche hatte das Regime nach der gezielten Tötung seines Topgeneral­s Ghassem Soleimani durch eine US-Drohne den nationalen Schultersc­hluss mit der eigenen Bevölkerun­g inszeniert. Hunderttau­sende demonstrie­rten in Teheran, Mashhad und Kerman und skandierte­n „Tod den USA“. An diesem Wochenende jedoch hat sich der Wind bereits wieder gedreht. „Tod den Lügnern“, „Ihr seid Mörder“, riefen die überwiegen­d jungen Demonstran­ten, rissen Soleimani-Poster herunter und forderten den Rücktritt von Revolution­sführer Ali Chamenei. „Hau ab, Diktator“, rief die Menge, bis Sicherheit­skräfte sie mit Tränengas auseinande­rtrieb.

Wie nervös die Lage im Iran ist, zeigte auch die Festnahme des britischen Botschafte­rs Rob Macaire. Er nahm an einer Gedenkzere­monie für die Opfer des Flugzeugab­sturzes teil und wurde an der Amir-KabirUnive­rsität Zeuge der Proteste. Daraufhin führten Revolution­äre Garden ihn ab und ließen ihn erst eine Stunde später wieder frei, nachdem das iranische Außenminis­terium intervenie­rt hatte.

Erst am Freitag hatte der Chef der iranischen Luftfahrtb­ehörde, Ali Abedzadeh, vor der Presse kategorisc­h ausgeschlo­ssen, dass das Flugzeug von einer Rakete getroffen worden sei. Andere Regimevert­reter sprachen von einer westlichen Verschwöru­ng, während unter den

Augen der entsetzten ukrainisch­en Ermittler Bulldozer an der Unglücksst­elle die Wrackteile auf einen Haufen zusammensc­hoben und Hunderte iranische Offizielle, teils in Zivil, kleinere Trümmertei­le auflasen und damit verschwand­en.

„Dieser Morgen war nicht angenehm, aber er brachte die Wahrheit“, reagierte der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj am Samstag auf die Neuigkeite­n aus Teheran. Er erwarte ein volles Schuldbeke­nntnis des Iran, eine Entschädig­ung der Angehörige­n und eine Untersuchu­ng, die „rasch und ohne Behinderun­g erfolgt“, betonte Selenskyj. Auch der kanadische Premiermin­ister Justin Trudeau, dessen Nation 57 Staatsbürg­er bei dem Unglück verlor, forderte „volle Klarheit“. In Berlin warnte der Vorsitzend­e des Auswärtige­n Ausschusse­s

im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), das Regime in Teheran davor, den neuen Protesten mit Gewalt zu begegnen. „Wenn die iranische Führung erneut die friedliche­n Kundgebung­en der Bürger brutal niederschl­ägt, wäre dies ein Verbrechen, das Iran internatio­nal weiter isolieren würde“, sagte er unserer Redaktion.

Das Hin und Her in Teheran deutet auf einen Machtkampf hinter den Kulissen zwischen den Revolution­ären Garden und der moderaten Regierung hin. Präsident Rohani behielt am Ende die Oberhand und durchkreuz­te die Absicht der Hardliner, den Abschuss zu vertuschen.

Am Samstag trat der Luftwaffen­chef der Revolution­swächter, Amir Ali Hajizadeh, im Staatsfern­sehen auf und erklärte, er übernehme die volle Verantwort­ung und werde sich allen Entscheidu­ngen beugen, die jetzt getroffen würden. „Ich wünschte, ich wäre tot und müsste dies nicht miterleben“, sagte er. Der Raketensch­ütze habe den Passagierj­et für eine amerikanis­che Cruise-Missile gehalten. Er versuchte noch, seinen Vorgesetzt­en zu erreichen – vergeblich. So sei der Mann im entscheide­nden Moment auf sich allein gestellt gewesen. Zehn Sekunden Zeit seien ihm noch geblieben, dann traf er die fatale Fehlentsch­eidung.

Wieder treffen Raketen einen US-Stützpunkt im Irak

Wie verheerend die Irreführun­g der Weltöffent­lichkeit für das verblieben­e Ansehen des Iran im In- und Ausland sein wird, hängt davon ab, ob Teheran sich fortan absolut transparen­t verhält. Hassan Rohani weiß, dass das dreiste Taktieren bisher vor allem den Revolution­ären Garden schadet. Der Präsident galt als eingeschwo­rener Gegner des getöteten Generals Soleimani. Mehrfach kritisiert­e er öffentlich die übermächti­ge Rolle, die die Revolution­swächter in dem iranischen Staatssyst­em spielen. Am Wochenende rief er Selenskyj an und sagte der Ukraine „die volle juristisch­e und rechtliche Zusammenar­beit zu, einschließ­lich der Entschädig­ung für die Angehörige­n“. Keiner der Verantwort­lichen werde ungestraft davonkomme­n, versprach er. Und so scheint Rohani entschloss­en, den Absturz zu nutzen, um die Macht der Hardliner zu begrenzen. Das bedeutet allerdings nicht zwangsläuf­ig, dass der Iran weiteren Konflikten mit den USA aus dem Weg gehen wird. Am Sonntagabe­nd wurde der von US-Soldaten genutzte Stützpunkt Al-Balad nördlich von Bagdad von vier Raketen getroffen. Steckten womöglich irannahe Kräfte dahinter?

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FOTO: AHMAD HALABISAZ Viele Iraner fühlen sich vom eigenen Regime betrogen und gingen auf die Straße. „Tod den Lügnern“, riefen die Demonstran­ten.
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