Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)
„Hau ab, Diktator“
Erst nach Tagen räumt Iran den Abschuss einer Boeing ein. Proteste gegen das Mullah-Regime flammen wieder auf
Erklärung: Boris Johnson (l.), Angela Merkel und Emmanuel Macron.
Die Familien der Opfer können es nicht fassen. Weltweit herrscht Empörung und Kopfschütteln über das Verhalten des Iran nach der Flugzeugkatastrophe von Teheran. Im Land gingen am Wochenende in vielen Städten die Menschen auf die Straße, aufgebracht über die dreisten Vertuschungsversuche und das späte Geständnis der eigenen Führung, dass die ukrainische Boeing 737-800 durch eine iranische Rakete getroffen wurde.
„Tod den Lügnern“, skandiert die aufgebrachte Menge
Drei Tage lang hatten die Verantwortlichen alles abgestritten. In großer Hast wurde versucht, die Absturzstelle von den Spuren des Geschosses zu reinigen. Am Samstag früh kam dann die Wende, ausgelöst durch den wachsenden internationalen Druck: Präsident Hassan Rohani und Außenminister Mohammad Javad Zarif erklärten, die Revolutionären Garden hätten die Maschine kurz nach dem Start irrtümlich angegriffen. „Das ist eine große Tragödie und ein unverzeihlicher Fehler“, twitterte Rohani. Zarif entschuldigte sich bei den Angehörigen. Er wies aber auch dem „Abenteurertum der USA“in der Region eine Mitschuld zu. Der Oberste Revolutionsführer Ali Chamenei forderte die Streitkräfte auf, sich dem eigenen Versagen zu stellen.
„Dieser Morgen war nicht angenehm, aber er brachte die Wahrheit.“Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine
Noch vor einer Woche hatte das Regime nach der gezielten Tötung seines Topgenerals Ghassem Soleimani durch eine US-Drohne den nationalen Schulterschluss mit der eigenen Bevölkerung inszeniert. Hunderttausende demonstrierten in Teheran, Mashhad und Kerman und skandierten „Tod den USA“. An diesem Wochenende jedoch hat sich der Wind bereits wieder gedreht. „Tod den Lügnern“, „Ihr seid Mörder“, riefen die überwiegend jungen Demonstranten, rissen Soleimani-Poster herunter und forderten den Rücktritt von Revolutionsführer Ali Chamenei. „Hau ab, Diktator“, rief die Menge, bis Sicherheitskräfte sie mit Tränengas auseinandertrieb.
Wie nervös die Lage im Iran ist, zeigte auch die Festnahme des britischen Botschafters Rob Macaire. Er nahm an einer Gedenkzeremonie für die Opfer des Flugzeugabsturzes teil und wurde an der Amir-KabirUniversität Zeuge der Proteste. Daraufhin führten Revolutionäre Garden ihn ab und ließen ihn erst eine Stunde später wieder frei, nachdem das iranische Außenministerium interveniert hatte.
Erst am Freitag hatte der Chef der iranischen Luftfahrtbehörde, Ali Abedzadeh, vor der Presse kategorisch ausgeschlossen, dass das Flugzeug von einer Rakete getroffen worden sei. Andere Regimevertreter sprachen von einer westlichen Verschwörung, während unter den
Augen der entsetzten ukrainischen Ermittler Bulldozer an der Unglücksstelle die Wrackteile auf einen Haufen zusammenschoben und Hunderte iranische Offizielle, teils in Zivil, kleinere Trümmerteile auflasen und damit verschwanden.
„Dieser Morgen war nicht angenehm, aber er brachte die Wahrheit“, reagierte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Samstag auf die Neuigkeiten aus Teheran. Er erwarte ein volles Schuldbekenntnis des Iran, eine Entschädigung der Angehörigen und eine Untersuchung, die „rasch und ohne Behinderung erfolgt“, betonte Selenskyj. Auch der kanadische Premierminister Justin Trudeau, dessen Nation 57 Staatsbürger bei dem Unglück verlor, forderte „volle Klarheit“. In Berlin warnte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses
im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), das Regime in Teheran davor, den neuen Protesten mit Gewalt zu begegnen. „Wenn die iranische Führung erneut die friedlichen Kundgebungen der Bürger brutal niederschlägt, wäre dies ein Verbrechen, das Iran international weiter isolieren würde“, sagte er unserer Redaktion.
Das Hin und Her in Teheran deutet auf einen Machtkampf hinter den Kulissen zwischen den Revolutionären Garden und der moderaten Regierung hin. Präsident Rohani behielt am Ende die Oberhand und durchkreuzte die Absicht der Hardliner, den Abschuss zu vertuschen.
Am Samstag trat der Luftwaffenchef der Revolutionswächter, Amir Ali Hajizadeh, im Staatsfernsehen auf und erklärte, er übernehme die volle Verantwortung und werde sich allen Entscheidungen beugen, die jetzt getroffen würden. „Ich wünschte, ich wäre tot und müsste dies nicht miterleben“, sagte er. Der Raketenschütze habe den Passagierjet für eine amerikanische Cruise-Missile gehalten. Er versuchte noch, seinen Vorgesetzten zu erreichen – vergeblich. So sei der Mann im entscheidenden Moment auf sich allein gestellt gewesen. Zehn Sekunden Zeit seien ihm noch geblieben, dann traf er die fatale Fehlentscheidung.
Wieder treffen Raketen einen US-Stützpunkt im Irak
Wie verheerend die Irreführung der Weltöffentlichkeit für das verbliebene Ansehen des Iran im In- und Ausland sein wird, hängt davon ab, ob Teheran sich fortan absolut transparent verhält. Hassan Rohani weiß, dass das dreiste Taktieren bisher vor allem den Revolutionären Garden schadet. Der Präsident galt als eingeschworener Gegner des getöteten Generals Soleimani. Mehrfach kritisierte er öffentlich die übermächtige Rolle, die die Revolutionswächter in dem iranischen Staatssystem spielen. Am Wochenende rief er Selenskyj an und sagte der Ukraine „die volle juristische und rechtliche Zusammenarbeit zu, einschließlich der Entschädigung für die Angehörigen“. Keiner der Verantwortlichen werde ungestraft davonkommen, versprach er. Und so scheint Rohani entschlossen, den Absturz zu nutzen, um die Macht der Hardliner zu begrenzen. Das bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass der Iran weiteren Konflikten mit den USA aus dem Weg gehen wird. Am Sonntagabend wurde der von US-Soldaten genutzte Stützpunkt Al-Balad nördlich von Bagdad von vier Raketen getroffen. Steckten womöglich irannahe Kräfte dahinter?