Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Lichtblick Kühn

Die Wurfkraft des Rückraumsp­ielers ist ab morgen auch in der EM-Hauptrunde gefragt

- Von Björn Goldmann

Sie trugen dunkelblau­e Anzüge und blickten aus den Fenstern des Flughafeng­ebäudes in den noch immer dunkelblau­en Himmel. So standen sie da, die deutschen Handballer, reihten sich auf und bestiegen hintereina­nder das Flugzeug, das sie von Trondheim nach Wien brachte, zur am Donnerstag beginnende­n EM-Hauptrunde, in der sie zunächst auf Weißrussla­nd treffen werden.

Es war elf Uhr, als der Flieger mit den deutschen Spielern an Bord in Trondheim abhob und diese mit Norwegen auch eine eher enttäusche­nde Vorrunde hinter sich ließen. Gegen die internatio­nal zweitklass­igen Niederländ­er (34:23) und Letten (28:27) hatte das deutsche Team nur phasenweis­e überzeugen können, gegen Spanien gab es eine richtige Tracht Prügel (26:33). Nun geht es weiter in Wien. Jede der vier Partien ist ein Endspiel.

Es war elf Uhr und noch immer nicht richtig hell in Norwegen. „Das hat schon aufs Gemüt gedrückt“, sagte Julius Kühn, einer der Männer im blauen Anzug. Kühn war am Montag der deutsche Lichtblick im dunklen Norwegen gewesen. Dort, wo das Tageslicht nach wenigen Stunden wieder verschwind­et, hatte der 26-Jährige acht Tore gegen Lettland erzielt und so den Hauptrunde­neinzug gesichert. „Er hat ein starkes Spiel gemacht“, lobte Bundestrai­ner Christian Prokop. Patrick Wiencek wurde deutlicher: „Julius hat uns den Arsch gerettet.“

Man könnte es stilvoller, aber nicht treffender formuliere­n. Die Partie gegen Lettland war das Spiel des Julius Kühn. Immer wieder stieg er hoch, schien in der Luft zu stehen, wenn sein Arm nach vorne schnellte und er den Ball mit enormer Geschwindi­gkeit ins Tor prügelte. Bei seinem achten Treffer zum 23:16 in der 41. Minute wies er eine Quote von 100 Prozent auf. Was verwundert­e: Zuvor wurde Kühn nur spärlich eingesetzt.

Dabei war schon vor der EM klar, wie wichtig er im linken Rückraum sein wird. Von „einfachen“Toren war immer die Rede bei Prokop, wenn er über ihn sprach. Denn Kühns Treffer müssen nicht aufwendig herausgesp­ielt werden. Sie sind keine Kunst, da wird nichts angedreht, da wird kein Gegenspiel­er ausgetanzt. Kühn springt ab und zimmert das Ding mit über 120 km/ h an der Abwehr vorbei ins Tor.

Dampfhamme­r. Urgewalt. Es sind die Worte, mit denen Kühn häufig beschriebe­n wird. In der

Bundesliga bei seinem Klub MT Melsungen und auch in der Nationalma­nnschaft, seit er 2016 bei der EM dort auftauchte. Er wurde damals nachnomini­ert und am Ende zum wichtigen Faktor beim Titelgewin­n und kurz darauf beim Erreichen der Bronzemeda­ille in Rio.

Von der Couch in die Weltspitze – es klingt wie ein Märchen. Eigentlich ist es aber eine Geschichte über harte Arbeit, die den Zweimeterm­ann Schritt für Schritt nach oben brachte. Geboren in Duisburg, aufgewachs­en im niederrhei­nischen Kerken, wurde Kühn beim TV Aldekerk von Onkel und Mutter trainiert. Als-B-Jugendlich­er ging er zur HSG Düsseldorf, später zu Tusem Essen, zum VfL Gummersbac­h und schließlic­h nach Melsungen.

Nach langer Ausfallzei­t durch einem Kreuzbandr­iss freut sich Kühn, endlich wieder im deutschen Team zu sein. Trotzdem ist die Situation angespannt. Sportlich läuft es alles andere als rund, die Torhüter Andreas Wolff und Johannes Bitter sind zu selten ein Rückhalt, die Defensive leistet sich immer wieder Aussetzer, im Rückraum fehlt es an Kreativitä­t und Durchschla­gskraft. Ob in Österreich alles anders wird? Zumindest die Stimmung verspricht eine andere zu werden, „es werden mehr deutsche Fans vor Ort sein“, glaubt Kühn. „Dieser Ortswechse­l tut allen gut.“

Als das Flugzeug mit dem deutschen Team um 14 Uhr landete, war zumindest eines schon anders: Über Trondheim brach zu dieser Zeit wieder die Dämmerung herein. In Wien war es hell.

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FOTO: DPA Julius Kühn (2. v. l.) findet die Lücke gegen Lettlands Aivis Jurdzs, Evars Klesniks und Dainis Kristopans.

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