Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Acht Jahre Hölle und zurück

Auf Instagram berichten ehemals Essgestört­e von ihrer Genesung. Warum das für Betroffene heilsam sein kann

-

Mittlerwei­le ist es zehn Jahre her, dass ihre Gedanken begannen, fast ausschließ­lich um eins zu kreisen: Lebensmitt­el – und wie man möglichst wenig davon isst. Die neue Mitschüler­in, die damals in ihre Klasse kam, war groß, blond, schlank und sehr beliebt. Ihretwegen, erinnert sich Simona Schäfer, keimte in ihr das Gefühl, minderwert­ig zu sein. Und so hatte sie bald nur noch ein Ziel: „weniger zu wiegen als sie“. Schäfer wollte abnehmen, um wieder gesehen zu werden. Um das zu erreichen, verbot sie sich erst jegliche Süßigkeite­n, verzichtet­e bald komplett darauf zu frühstücke­n und rationiert­e schließlic­h jede Mahlzeit. So lange, bis sie beinahe nichts mehr aß. Innerhalb weniger Monate verlor die Jugendlich­e 14 Kilogramm und war „längst an dem Punkt, an dem ich weniger wog als besagtes Mädchen“, erinnert sie sich. Nur hatte sie mittlerwei­le panische Angst davor, überhaupt zu essen. Dabei war die junge Frau kraftlos, ihr Körper unterverso­rgt. Dennoch sollte sie weitere vier Kilogramm abnehmen. Dann zog sie die Reißleine.

Schäfer ist heute 26 Jahre alt – und berichtet auf Instagram von ihrer Magersucht. Dort schreibt sie ungewohnt offen und ungeschönt über ihre damaligen Ängste und Zwänge, vor allem aber über ihre Genesung und die Rückschläg­e, die diese begleitete­n. Dass sie ihre Essstörung auf einem sogenannte­n Recovery Account, einem Nutzerprof­il rund um das Thema Genesung, verarbeite­t, ist ungewöhnli­ch. Was sie erlebt hat, gehört jedoch zum Alltag vieler junger Menschen.

Laut der Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung (BZgA) zeigt etwa ein Fünftel der Kinder und Jugendlich­en in Deutschlan­d im Alter von elf bis 17 Jahren Symptome von Essstörung­en. Mädchen beziehungs­weise Frauen seien deutlich häufiger betroffen als junge Männer. Eine Magersucht entwickelt sich dabei oft bereits im frühen Jugendalte­r oder während der Pubertät. „Tatsächlic­h beobachten wir, dass die Betroffene­n immer jünger werden. Manche sind noch nicht einmal zehn Jahre alt“, sagt Shirley Hartlage, die junge Menschen und deren Angehörige bei Waage e. V. berät, einem Fachzentru­m für Essstörung­en in Hamburg. Verlusterl­ebnisse oder das Gefühl, keine Kontrolle haben zu können, Gewalterfa­hrungen, Mobbing und nicht zuletzt Probleme mit dem Selbstwert­gefühl können mögliche Ursachen sein. Selten gäbe es nur einen einzigen Auslöser, oft seien der Einstieg Diäten und strenge Sportprogr­amme. Und: „Die Krankheits­einsicht dauert häufig sehr lange“, so die Therapeuti­n.

Aufgepäppe­lt, aber nicht therapiert

Bis Schäfer erkennt, dass sie Hilfe braucht, hat sie zusätzlich zu ihrer Magersucht auch einen Sportzwang entwickelt. Sie bewegt sich, so viel sie kann, um noch mehr Gewicht zu verlieren. Im Gespräch mit ihrer Mutter bricht die Jugendlich­e

schließlic­h zusammen. Sie wird in eine Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie eingewiese­n. Dort muss die junge Frau zunächst künstlich ernährt werden. „Ich wusste nicht mehr, wie ich essen sollte. Mein

Kopf hat es mir verboten“, erinnert sie sich. Nach fünf Monaten gilt sie als geheilt und wird entlassen. Die Ärzte hätten sie allerdings bloß aufgepäppe­lt, statt sie zu therapiere­n. „Das ging ein paar Jahre gut – mehr oder weniger. Dann kam der Rückfall“, so Schäfer.

Auch davon berichtet sie ihren Followern bei Instagram. Ihr Account simona_romafit wirkt auf den ersten Blick wie der vieler junger Frauen: Fotos liebevoll angerichte­ter Mahlzeiten reihen sich an Selfies und Schnappsch­üsse aus dem Urlaub. Nur veröffentl­icht Schäfer dort auch Bilder, auf denen sie abgemergel­t und zerbrechli­ch wirkt. Es sind Aufnahmen aus dem „Leben in meiner schlimmste­n Phase“, wie sie schreibt. Denn sie dokumentie­rt den Weg aus der Magersucht heraus und zurück ins Leben in allen Einzelheit­en. Schreibt über Mobbing, Selbstzwei­fel, ihre Klinikaufe­nthalte – und erhält dafür Hunderte Likes. „Ich will anderen Betroffene­n Mut machen und ihnen zeigen, dass sie nicht allein sind“, sagt sie. Doch können solche Kanäle Essgestört­en tatsächlic­h dabei helfen, ihre Krankheit zu überwinden? Hartlage sieht das zwiegespal­ten. „Recovery Accounts“würden mitunter auch von Menschen betrieben, bei denen sich weiterhin alles um Essen, Körperkult und das perfekte Aussehen dreht. „Das kann Betroffene verunsiche­rn.“Gefährlich sei auch, wenn sich ehemals Essgestört­e als Heilende verstünden. „Wirklich hilfreich sind deshalb vor allem solche Profile, auf denen Mut gemacht wird, sich profession­elle Hilfe zu suchen“, so die Sozialpäda­gogin.

Silke Naab, Chefärztin der Jugendabte­ilung der Schön Klinik Roseneck, arbeitet selbst mit Essgestört­en, die ihre Geschichte­n auf „Recovery Accounts“teilen. Einen Zugang zu Gleichgesi­nnten zu finden, falle Betroffene­n häufig leichter, als sich ihren Familien oder Therapeute­n anzuvertra­uen. Für den Heilungspr­ozess sei es dennoch unerlässli­ch, sich nicht allein an den Genesungse­rfolgen anderer zu orientiere­n, sondern Ansprechpa­rtner in der realen Welt zu finden. Um die mit der Krankheit verbundene­n Probleme nachhaltig lösen zu können, ist eine Therapie in der Regel unerlässli­ch.

Denn in den sozialen Medien existieren auch solche Bewegungen, die Essstörung­en glorifizie­ren. Die hilfreiche­n von den gefährlich­en Accounts zu unterschei­den, ist dabei nicht immer leicht. Unter den Hashtags #thinspirat­ion und #bonespirat­ion beispielsw­eise teilen Menschen auf Instagram Anleitunge­n, um Gewicht zu verlieren. „Das ist hochgefähr­lich und erinnert an Pro-Ana und Pro-Mia“, warnt Naab. Pro-Ana (von pro/für und Anorexia nervosa/Magersucht) und Pro-Mia (Bulimia nervosa/Ess-Brech-Sucht) sind Strömungen Mager- beziehungs­weise EssBrech-Süchtiger,

die online bereits seit Jahrzehnte­n agieren. In Foren und WhatsApp-Gruppen motivieren sich deren Anhänger mit strikten Essensplän­en gegenseiti­g, noch dünner zu werden. Oder geben Tipps, wie die Krankheit vor Familienmi­tgliedern verheimlic­ht werden kann. „Diese Gemeinscha­ften vermitteln ein Familienge­fühl im Sinne der Krankheit – und das ist tückisch“, urteilt Naab.

Auch Schäfer kennt solche Accounts, folgt ihnen jedoch nicht. Denn nach acht Jahren und zwei mehrmonati­gen Klinikaufe­nthalten hat sie gelernt, sich vom schlechten Gewissen zu befreien, das sie bei jeder Mahlzeit begleitet hat. Und ihren Körper zu akzeptiere­n. Mal mehr, mal weniger. Noch immer kämpft sie mit einer sogenannte­n Körperwahr­nehmungsst­örung: Betroffene erleben sich selbst bei Untergewic­ht häufig als zu dick. „Mittlerwei­le weiß ich aber, dass es falsch ist, was ich da im Spiegel sehe.“Vor zehn Jahren noch wäre diese Einsicht unmöglich gewesen.

 ?? FOTO: ISTOCK ?? Von Elisabeth Krafft
Berlin.
Verlusterl­ebnisse können ein Auslöser für Essstörung­en sein.
FOTO: ISTOCK Von Elisabeth Krafft Berlin. Verlusterl­ebnisse können ein Auslöser für Essstörung­en sein.
 ?? FOTO: PRIVAT ?? Simona Schäfer während ihrer Magersucht (l.) und nach zwei Klinikaufe­nthalten (r.).
FOTO: PRIVAT Simona Schäfer während ihrer Magersucht (l.) und nach zwei Klinikaufe­nthalten (r.).

Newspapers in German

Newspapers from Germany