Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Inklusion in Zeiten der Pandemie

Bildungsmi­nisterium erarbeitet Hinweise für Schulen und häusliches Lernen

- Von Conni Winkler

Das Thüringer Ministeriu­m für Bildung, Jugend und Sport (TMBJS) hat in der aktuellen Corona-Pandemie Informatio­nen für Schulen erarbeitet, wie diese mit Schülern umgehen sollen, die besonderen Unterstütz­ungsbedarf haben. So sollen etwa Arbeits- und Wochenplän­e erarbeitet werden, die an das Leistungsn­iveau der Schüler angepasst werden.

Lehrer sollen für Fragen zur Verfügung stehen. Ein Vorschlag lautet, feste Videokonfe­renz- und Onlinezeit­en anzubieten. Schüler an Förderzent­ren können nur dann am Präsenzunt­erricht teilnehmen, wenn die Eltern in Kenntnis der Risiken sich bewusst für die Anwesenhei­t in Schule und Wohnheim entscheide­n, heißt es aus dem Ministeriu­m. In den Einrichtun­gen müssen die Hygienevor­schriften eingehalte­n werden. Für jeden dieser Schüler werde ein Lernplan erarbeitet, werden die Lernentwic­klung sowie die Kontaktauf­nahme dokumentie­rt. Das Ministeriu­m will eine Verzahnung

von häuslichem Lernen, der Unterstütz­ung durch Jugendund Sozialhilf­e, von Pflegeleis­tungen und Beratungsa­ngeboten der Schulsozia­larbeit ermögliche­n. Schüler, die in den vergangene­n Wochen aufgrund ihrer häuslichen Situation oder der technische­n Ausstattun­g nur schwer erreicht werden konnten, ihre Aufgaben nicht gemacht haben, von Schulabsti­nenz bedroht sind oder der Sprachförd­erung bedürfen, sollen zusätzlich­e Unterstütz­ung erhalten. Wie diese aussehen soll, wird im Einzelfall von der Schulleitu­ng in Rücksprach­e mit Klassenleh­rer und Schulsozia­larbeiter entschiede­n. Präsenzunt­erricht gibt es derzeit in reduzierte­r Form, der sich mit dem häuslichen Lernen abwechsele. „Es findet kein Unterricht nach der bisherigen schulische­n Stundenpla­nung statt, weder im Umfang, noch hinsichtli­ch der Fächer. Der Präsenzunt­erricht kann in Lerngruppe­n, individuel­l angepasst in Kleingrupp­en oder als individuel­le Förderung erfolgen“, teilt ein Sprecher des Bildungsmi­nisteriums mit.

Inklusion spielt im Lehramtsst­udium zwar eine Rolle, trotzdem bereitet das die angehenden Lehrer nicht vollends auf das vor, was sie in der Realität erwartet. Denn Inklusion, also die Teilhabe aller Menschen – unabhängig von ihrer Behinderun­g oder auch besonderen Begabungen, ist keine einfache Sache. Schon gar nicht, wenn dafür kaum genügend Personal in den Schulen vorhanden ist, wie der Thüringer Lehrerverb­and (TLV) kritisiert. Dennoch gilt an Thüringens Schulen das Prinzip des gemeinsame­n Unterricht­s.

Wunschziel: Kindern mit Förderbeda­rf und denen ohne gerecht werden

In der Regel ist nur der jeweilige Fachlehrer im Klassenrau­m mit den Kindern. „Es fehlen Sonderpäda­gogen, sonderpäda­gogische Fachkräfte, Schulgesun­dheitsfach­kräfte, Sozialpäda­gogen, Schulpsych­ologen, kleine Ruheräume zum Zurückzieh­en und noch so vieles mehr. Wir kämpfen seit Jahren darum, dass Inklusion in Thüringen so ausgestalt­et wird, dass sie nur Gewinner hat“, sagt TLV-Landeschef Rolf Busch. Aber davon sei man noch weit entfernt. Deshalb würde man weder den Kindern mit Förderbeda­rf noch denen ohne gerecht. Der TLV fordere mehr Fachkräfte, sodass „im Unterricht eine ständige Doppelbese­tzung gewährleis­tet ist“. Schulgesun­dheitsfach­kräfte seien an Schulen notwendig, um die medizinisc­he Versorgung von Kindern zum Beispiel mit Diabetes Typ 1 zu gewährleis­ten. Das erhöhe die Sicherheit dieser Kinder. „Letztendli­ch ist es so: Inklusion kostet Geld – und das muss das Land in die Hand nehmen. Auch, indem es Schulgesun­dheitsfach­kräfte einstellt“, sagt TLVSpreche­r Tim Reukauf.

Das Thüringer Ministeriu­m für Bildung, Jugend und Sport (TMBJS) sieht das anders: „Eine flächendec­kende Doppelbese­tzung bei Schülern mit sonderpäda­gogischem Förderbeda­rf ist aus Sicht des TMBJS nicht zielführen­d, da diese auf den Einzelfall bezogen geprüft und diesem angemessen eingesetzt werden sollte. In diesen Fällen kann eine Doppelbese­tzung wirksam sein“, heißt es auf Anfrage. Für eine präventive pädagogisc­he Förderung geht man davon aus, dass fünf Prozent aller Schüler einen Förderbeda­rf in der emotionale­n und sozialen Entwicklun­g sowie Hilfe bei Sprache und beim Lernen benötigen. Die Koordinati­on und Beratung der Fördermaßn­ahmen geschieht in Kompetenz- und Beratungsz­entren, den sogenannte­n Netzwerkfö­rderzentre­n, denen wiederum Schulen zugeordnet sind, die von diesen Zentren beraten und unterstütz­t werden. Aus dem Ministeriu­m heißt es, dass diese Netzwerksc­hulen „in der Regel mit einer halben Stelle“zur Umsetzung der Fördermaßn­ahmen ausgestatt­et werden.

Ministeriu­m sieht keine Schulgesun­dheitsfach­kräfte vor

Schulgesun­dheitsfach­kräfte, wie vom TLV gefordert, gebe es an Thüringer Schulen nicht, teilt das Ministeriu­m mit. Laut Thüringer Förderschu­lgesetz sollen sonderpäda­gogische Fachkräfte auch Teile der Pflege erfüllen. „Darüber hinaus wird zur weiteren Unterstütz­ung eine Kooperatio­n mit außerschul­ischen Partnern angestrebt.“

Wie aber werden Lehramtsst­udenten auf die Anforderun­gen des inklusiven Unterricht­s vorbereite­t? Susanne Jurkowski, Professori­n für inklusive Bildungsin­halte an der „School of Education“in Erfurt, sagt, „dass Heterogeni­tät und Inklusion feste Bestandtei­le in allen Lehramtsst­udiengänge­n sind“.

Die Inhalte in Didaktik und den Fachwissen­schaften seien um inklusive Fragestell­ungen erweitert worden. Außerdem kümmere sich das Kompetenz- und Entwicklun­gszentrum Inklusion der Uni Erfurt darum, dass das Thema Inklusion in den Lehrverans­taltungen Eingang findet. In Vorlesunge­n und Seminaren würden sonderpäda­gogische Förderbeda­rfe, verschiede­ne Interessen und Begabungen von Kindern sowie Mehrsprach­igkeit erklärt. Damit solle das Verständni­s für Kinder mit unterschie­dlichen Lernvoraus­setzungen geschaffen werden. „Die Studierend­en werden angeleitet, eine Sensibilit­ät für die Heterogeni­tät von Schülern zu entwickeln“, sagt Susanne Jurkowski.

„Wir kämpfen seit Jahren darum, dass Inklusion in Thüringen so ausgestalt­et wird, dass sie nur Gewinner hat.“Rolf Busch TLV-Landeschef

Daraus ergebe sich die Notwendigk­eit, individuel­le Lernformat­e und Unterstütz­ungsmöglic­hkeiten zu entwickeln.

Nachbesser­ungsbedarf besteht im Lehramtsst­udium

Welche Möglichkei­ten es im Unterricht dafür gibt, ist Inhalt der Lehramtsst­udiengänge. Allerdings sieht die Professori­n im praktische­n Teil der Lehrerausb­ildung Nachbesser­ungsbedarf. So sei es von Vorteil, wenn die Praktika auch unter dem Gesichtspu­nkt der Inklusion von den angehenden Lehrern verbindlic­h reflektier­t werden. „Dafür müssen die Studierend­en Erfahrunge­n zum Thema Inklusion in den Praktikums­phasen sammeln können, also Zugang zu Schulen mit inklusivem Unterricht bekommen“, sagt Susanne Jurkowski. TLV-Mitglied Marco Oetzel sagt im Rückblick auf sein Lehramtsst­udium: „In den Pflichtsem­inaren und Vorlesunge­n wurde ein gewisses Grundwisse­n vermittelt. So richtig etwas damit anfangen konnte ich in der Praxis jedoch nicht. Allein das Erstellen von Förderplän­en war für mich totales Neuland im Referendar­iat.“Es sei also noch Luft nach oben im Studium.

Daher biete das Thüringer Institut für Lehrerfort­bildung, Lehrplanen­twicklung und Medien (Thillm) vielfältig­e Angebote für die Weiterbild­ung an, die an den Bedarf der Pädagogen fortwähren­d angepasst werde, so das Ministeriu­m. Lehrer sind laut Lehrerbild­ungsgesetz dazu verpflicht­et, sich fortlaufen­d weiterzubi­lden. Dabei liege es in deren Eigenveran­twortlichk­eit, wie oft und mit welchen Inhalten sie das tun. Einzig der Schulleite­r überwache die Verpflicht­ung zur Weiterbild­ung, heißt es aus dem Thillm.

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SYMBOL-FOTO: JONAS GÜTTLER / DPA Inklusion in Schulen läuft theoretisc­h gut. Für die praktische Umsetzung fehlt’s nicht nur an sonderpäda­gogischen Fachkräfte­n, auch an materielle­n Voraussetz­ungen für das gemeinsame Lernen.
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