Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Harter Brexit wegen Coronaviru­s?

Stimmung in den Verhandlun­gen zwischen London und Brüssel auf dem Tiefpunkt – der Premiermin­ister will ein Spitzentre­ffen, aber von der Leyen zögert

- Von Christian Kerl

Vier Monate nach dem EU-Austritt Großbritan­niens ist die Stimmung zwischen London und Brüssel auf dem Tiefpunkt. Der britische Premiermin­ister Boris Johnson schimpft, die EU müsse „endlich aufwachen“und die politische­n Realitäten erkennen. Sein Unterhändl­er David Frost beklagt, die EU habe den Briten nur einen „unfairen“und „relativ minderwert­igen“Handelsver­trag angeboten, ihr Ansatz sei „ideologisc­h“. EUChefverh­andler Michel Barnier keilt zurück: „Ich mag den Ton nicht, mit dem Sie über das gegenseiti­ge Vertrauen sprechen, das entscheide­nd für uns ist“, kanzelte Barnier den britischen Counterpar­t ab.

Der Franzose warnt jetzt offen vor einem Scheitern der Verhandlun­gen über den Handelsver­trag mit dem Vereinigte­n Königreich. Den Vertrag werde Brüssel nicht um jeden Preis abschließe­n, versichert Barnier. Großbritan­nien habe „einen Schritt zurückgema­cht hinter seine ursprüngli­chen Zusagen“– nein, „zwei, drei Schritte zurückgema­cht“. Denkbar schlechte Voraussetz­ungen für die neue Verhandlun­gsrunde zwischen der EU-Kommission und der britischen Regierung, die am Dienstag per Videokonfe­renz begann.

„Wenn sich London nicht bewegt, müssen wir uns auf einen harten Brexit zum 1. Januar einstellen.“Bernd Lange, SPD-Handelsexp­erte

In Brüssel wächst die Besorgnis: Kommt nach der laufenden Übergangss­chonfrist also doch ein NoDeal-Brexit – zum Schaden von Wirtschaft und Bürgern in Europa? Der Chef des Handelsaus­schusses im EU-Parlament, Bernd Lange (SPD), warnte am Dienstag: Wenn sich die britische Regierung nicht bewege, „müssen wir uns auf einen ungeregelt­en, einen harten Brexit zum 1. Januar 2021 einstellen“. Das aber, so klagt die Grünen-Handelsexp­ertin Anna Cavazzini, sei „das Letzte“, was die Corona-geplagte Wirtschaft auf beiden Seiten des Ärmelkanal­s gebrauchen könne: „Johnson spielt mit dem Feuer.“Die Uhr tickt: Bis Jahresende müssen sich London und Brüssel auf ein Handelsabk­ommen und andere Verträge verständig­t haben – dann läuft die Übergangsp­hase aus, in der sich das Vereinigte Königreich noch an die EU-Regeln hält und derweil dem Binnenmark­t und der Zollunion angehört. Ohne neue Verträge

müssten zum 1. Januar 2021 beim Handel zwischen Insel und Kontinent Zölle und umfangreic­he Grenzkontr­ollen eingeführt werden. Auf Antrag Großbritan­niens, möglich bis Ende Juni, ließe sich die Übergangsp­hase zwar um zwei Jahre verlängern. Doch das lehnt Johnson weiter ab.

Die Regierung ist bei den Briten im Wort und fürchtet, dass sich Großbritan­nien bei längerer Schonfrist an den milliarden­teuren Corona-Rettungspa­keten der EU beteiligen müsste. Bleiben die Verhandlun­gen. Aber in den bisherigen drei Runden gab es kaum Fortschrit­te. Brüssel fordert, dass EU-Fischer weiter in britischen Gewässern fischen dürfen, London lehnt das als Eingriff in die nationale Souveränit­ät ab und will jedes Jahr neu über Fangquoten verhandeln.

Brüssel will, dass die Briten für den Zugang zum Binnenmark­t die Rechtsprec­hung der EU anerkennen und EU-Standards dauerhaft einhalten, auch bei künftigen Verschärfu­ngen. Die britische Regierung sagt Nein und fordert, dass Großbritan­nien nicht schlechter gestellt wird als Kanada oder Japan, die in ihren Handelsver­trägen so weitgehend­e Klauseln nicht unterschre­iben mussten. Auf dieser Basis werde es kein Abkommen geben, erklären Johnsons Unterhändl­er.

Kompromiss­e sind indes kaum in Sicht. Die Verhandlun­gen leiden darunter, dass die beiden Delegation­en mit jeweils rund hundert Beamten wegen Corona nur per Videokonfe­renz tagen können. Inzwischen ist die Stimmung so schlecht, dass ein Durchbruch in der vierten Runde bis Ende dieser Woche von vornherein ausgeschlo­ssen wurde. In Brüssel hegen immer mehr Beteiligte den Verdacht, dass Johnson gar keine Verständig­ung mehr wolle, um möglichst ungehinder­t den Wettbewerb mit der EU anzutreten. Johnson kalkuliere damit, dass sich der durch einen No-Deal verursacht­e Schaden für die britische Wirtschaft auf die Corona-Pandemie schieben lasse, ahnt EU-Handelskom­missar Phil Hogan.

Johnson bestreitet das und spielt den Ball zurück nach Brüssel. Er kündigt an, bei einem Spitzentre­ffen mit EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen Ende Juni die größten Hürden für eine Verständig­ung persönlich ausräumen zu wollen. Daraus könne ein politische­s Momentum für die Verhandlun­gen werden, heißt es.

Doch von der Leyen scheut ein Treffen mit dem gerissenen Premier. Ihre Beamten vermeiden auf Nachfragen jede Festlegung, ob die Präsidenti­n Johnsons Offerte annimmt. Fürchtet sie einen Misserfolg? Ihr Chefverhan­dler Barnier versichert, sollten die Verhandlun­gen scheitern, hätten die Briten den größeren Schaden. Johnson indes glaubt, er habe im Verhandlun­gspoker noch einen Joker: Parallel arbeitet er an einem Freihandel­svertrag mit den USA. Bis Jahresende soll eine Verständig­ung erzielt sein.

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FOTO: AFP Premiermin­ister Boris Johnson (r.) beantworte­t im Unterhaus Fragen der Abgeordnet­en per Videokonfe­renz. Neben ihm Gesundheit­sminister Matt Hancock.

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