Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Die gefährlich­e Unvernunft

Familienfe­iern, Partys und Masseneven­ts: Nach Pfingsten schauen Experten besorgt auf die Infektions­zahlen

- Von Julia Emmrich, Elisabeth Krafft und Laura Réthy

Gedränge am Strand von Sylt, überfüllte Ostseebäde­r und eine politische Massenpart­y mit Hunderten von Schlauchbo­oten auf dem Berliner Landwehrka­nal: Bilder des Pfingstwoc­henendes, die den Behörden Schweißper­len auf die Stirn treiben. Die Gefahr ist real, dass in wenigen Tagen die Quittung für die sonnigen Feiertage in Form von neuen Corona-Ausbrüchen kommt. Bereits in den letzten Tagen war es immer wieder zu regionalen Infektions­fällen gekommen – zuletzt in Göttingen, wo sich nach mehreren Familienfe­iern Dutzende Menschen angesteckt hatten.

Bundesweit ist die Zahl der Neuinfekti­onen aktuell zwar weiter niedrig – doch der R-Wert, der anzeigt, wie viele Menschen ein Infizierte­r ansteckt, überschrit­t zeitweise wieder die kritische Marke von 1,0. Wie gefährlich wird die wachsende Unvernunft? Treibt die sommerlich­e Feierlaune die Viruskurve wieder in die Höhe?

Wie ist die aktuelle Lage?

Einerseits gibt es seit Wochen einen sinkenden Trend bei den Neuinfekti­onen. Zuletzt meldeten die Gesundheit­sämter dem Robert-KochInstit­ut (RKI) 213 Corona-Infektione­n binnen einem Tag, damit haben sich seit Beginn der Corona-Krise 182.028 Menschen in Deutschlan­d nachweisli­ch mit Sars-CoV-2 angesteckt (Datenstand 2. Juni, 0 Uhr). Die Zahlen sind zu Wochenbegi­nn wegen Meldeverzö­gerungen jedoch oft niedriger. Die Reprodukti­onszahl, kurz R-Wert, lag am Montag dagegen bei 1,20. Zwar schätzte das RKI sie für ganz Deutschlan­d am Dienstag wieder deutlich niedriger ein: 0,89. Aber in Berlin kletterte der aktuelle R-Wert auf 1,95. Das bedeutet, dass 100 Infizierte in der Bundeshaup­tstadt derzeit 195 weitere Menschen anstecken.

Wichtig ist: Die aktuellen Zahlen beschreibe­n nicht das gegenwärti­ge Infektions­geschehen, sondern bilden ab, was vor einigen Tagen passiert ist. Ob und wie sich das Pfingstwoc­henende auswirkt, wird deswegen ebenfalls erst mit zeitlicher Verzögerun­g sichtbar. Genauso beim RWert: Er bildet jeweils das Infektions­geschehen etwa eineinhalb Wochen zuvor ab.

Wann ist der R-Wert alarmieren­d?

Noch vor wenigen Wochen hätte ein Wert über eins große Sorge und in der Folge auch politische Entscheidu­ngen ausgelöst. Denn R größer eins bedeutet, dass sich das Virus weiter ausbreitet. Doch die Zahl der Infizierte­n in Deutschlan­d ist derzeit so niedrig, dass ein hoher RWert nicht automatisc­h einer Katastroph­e gleichkomm­t, betont Professor Markus Scholz vom Institut für Medizinisc­he Informatik an der Universitä­t Leipzig. „Wenn das Infektions­geschehen niedrig ist, reagiert das R auf lokale Ereignisse wie etwa in Göttingen sehr leicht“, erklärt Scholz. Die sogenannte­n Supersprea­ding-Events, bei denen sich lokal begrenzt viele Menschen in kurzer Zeit anstecken, können also R in die Höhe schnellen lassen, ohne dass das ganze Land vor einer zweiten Infektions­welle steht.

Wem noch die Warnung von Kanzlerin Angela Merkel Sorge bereitet, nach der das Gesundheit­ssystem bei einem R-Wert von 1,2 bereits drei Monate später seine Belastungs­grenze erreicht haben könnte, muss auch die Zahl der Infizierte­n einbeziehe­n. Im April, als Merkel warnte, waren fast 2500 Neuinfekti­onen gemeldet worden. „Derzeit muss niemand fürchten, dass wir an die Kapazitäts­grenze der Intensivbe­tten stoßen“, bestätigt Scholz.

Hinzu kommt, dass das RKI neuerdings einen weiteren R-Wert angibt, der einen längeren Zeitraum umfasst und Schwankung­en glättet.

Er ist genauer. Dieser Wert lag zuletzt bei 0,87 – also unter 1. Der Berliner Virologe Christian Drosten riet am Dienstag dazu, den R-Wert nicht überzubewe­rten: Man müsse im Moment weniger auf den R-Wert schauen als auf die Zahl der Neuinfekti­onen.

Welche Rolle spielen Supersprea­der?

In Frankfurt infizierte­n sich nach einem Gottesdien­st mehr als 200 Menschen, in Ostfriesla­nd nach einem Restaurant­besuch mehr als 30 – Hunderte mussten in Quarantäne. Die Supersprea­ding-Events häufen sich. „Also solche Ereignisse, die die Ausbreitun­g der Pandemie massiv beschleuni­gen“, sagt Friedemann Weber, Professor für Virologie an der Justus-Liebig-Universitä­t Gießen. Supersprea­dingEvents sind zeitlich und räumlich begrenzt, die daraus resultiere­nden Neuinfekti­onen lassen sich meist auf eine oder wenige Personen zurückführ­en.

Als Supersprea­der wiederum werden Menschen bezeichnet, die infiziert sind und besonders viele Personen anstecken. „Dass sie viele infizieren, könnte daran liegen, dass betreffend­e Personen überdurchs­chnittlich infektiös oder sozial aktiv sind. Oder aber unterdurch­schnittlic­h vorsichtig“, so Weber. Stress oder Begleiterk­rankungen können das Abwehrsyst­em unterdrück­en, wodurch die Viruslast steigt. Grundsätzl­ich kann jeder Infizierte, der mit vielen Menschen Kontakt hat, zum Supersprea­der werden. Da manch Infizierte­r keine oder kaum Symptome hat, merkt dieser womöglich nicht einmal, dass er ansteckend ist. Und: Nicht immer liegt es am Infizierte­n selbst. Auch die Umstände sind entscheide­nd. Laut Weber spielt es beispielsw­eise eine große Rolle, ob Zusammenkü­nfte mehrerer Menschen draußen oder drinnen stattfinde­n.

Warum ist die zweite Welle bislang ausgeblieb­en?

Experten führen das vor allem auf zwei Faktoren zurück: die Maskenpfli­cht in vielen Bereichen des öffentlich­en Raums – und das gute Wetter, dass dazu führt, dass viele Kontakte bei guten Lüftungsbe­dingungen stattfinde­n – durch offene Fenster, durch Begegnunge­n im Freien. Je größer der Luftaustau­sch ist, desto schneller werden hochinfekt­iöse Aerosole unschädlic­h.

„Nach den Lockerunge­n erwarten wir alle intuitiv, dass die Fälle wieder zunehmen müssten“, sagte Drosten am Dienstag in seinem Podcast. Aber: Es gebe inzwischen eben zahlreiche Effekte, die dagegen spielten. Neben der Maskenrout­ine sei das auch das Wissen darüber, dass das Coronaviru­s vor allem dann gut übertragen werde, wenn größere Menschenme­ngen in Innenräume­n versammelt seien.

„Nach den Lockerunge­n erwarten wir alle intuitiv, dass die Fälle wieder zunehmen müssten.“Christian Drosten, Virologe

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FOTO: DDP IMAGES/STEFFENS Die Corona-Demo der Berliner Clubszene mit Hunderten von Schlauchbo­oten musste vorzeitig abgebroche­n werden.

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