Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

„Unser Pulver war verschosse­n“

May, Matuschews­ki und Herrmann rannten in Tokio ihren Ansprüchen hinterher

- Von Michael Voss

Nein, in Japan war Jürgen May nie wieder. Seit 1964, als sich sein Traum von Olympia erfüllte. „Es war auch ein Traumland – exotisch, tolles Essen, Hightech, das Gewusel in den Gassen der Altstadt…“, erinnert sich der 77-Jährige. Doch sportlich gesehen hielten die Sommerspie­le für die drei mitfavoris­ierten Thüringer Läufer – May sowie seine Mitstreite­r Manfred Matuschews­ki und Siegfried Herrmann – kein Happy-End bereit.

Das hatte einen Hauptgrund: „Wir hatten unser Pulver schon in der deutsch-deutschen Ausscheidu­ng verschosse­n“, sagt der gebürtige Nordhäuser, der wie die anderen bei Ewald Mertens in Erfurt trainierte. In einer Truppe, die sowohl

1963 als auch 1965 zu Weltrekord­en stürmte und die Massen begeistert­e. Oft mehr als die Fußballer.

Doch im Olympia-Jahr stand, sechs Wochen vor Tokio, die interne Qualifikat­ion an. Im Kalten Krieg. „Da mussten wir in Hochform sein, um gegen die starken Westdeutsc­hen zu bestehen“, blickt May auf die „nervenaufr­eibenden Rennen“in Westberlin und Jena zurück. Die meisterte das Trio mit Bravour. Doch dann Richtung Tokio „haben wir uns ein Stück weit leer gefühlt.“

Hinzu kam die ungewohnte hohe Luftfeucht­e. Für May war es, mit 22, der erste große Auslandsst­art. „Und ich habe Lehrgeld gezahlt“, sagt er und lächelt heute darüber milde. Als Achter schied er über 1500 Meter in seinem Halbfinale aus.

Seinem Turbine-Clubkamera­den Manfred Matuschews­ki erging es nicht besser: Der aus Weimar stammende „Millimeter­läufer“– so genannt, weil er sich oft hauchdünn mit den letzten Spurtschri­tten den Sieg sicherte – kam nicht über Rang vier im Halbfinale über 800 Meter hinaus. Drei Zehntel fehlten zum Endlauf. Und Siegfried Herrmann lief über 10.000 Meter als Elfter ein. Gut eine Minute hinter dem indianisch­en US-Sieger Billy Mills.

Überhaupt, Olympia stand für das Thüringer Trio nie unter einem guten Stern: 1956 in Melbourne schied Herrmann über 1500 Meter in Top-Form aus. Dem gebürtigen Unterschön­auer, später achtfacher DDR-Meister, riss im Vorlauf die Achillesse­hne. Matuschews­ki wurde in Rom 1960 immerhin Sechster über 800 Meter. Der spätere Europameis­ter (1962,d 1966) blieb dort jedoch unter seinen Möglichkei­ten.

Ein Traumjahr erwischten die Thüringer in der Saison nach Tokio: May rannte am 14. Juli 1965 in Erfurt

auf dem legendären TVI-Sportplatz Europareko­rd über 1500 Meter (3:36,4 min), eine Woche später an gleicher Stelle gar Weltrekord über 1000 Meter in 2:16,2 min. Herrmann ließ es dort am 5. August krachen: Weltrekord über 3000 Meter in 7:46,0 min. May gelang es zudem in einem denkwürdig­en 1500m-Rennen in Prag, sämtliche TokioMedai­llengewinn­er zu bezwingen. Allen voran Doppel-Olympiasie­ger Peter Snell. Vom spurtschne­llen Neuseeländ­er und den Ideen seines legendären Trainers Arthur Lydiard, den die Erfurter 1964 kennenlern­ten, hätte er „trainingsm­ethodisch enorm profitiert“, sagt May.

Doch olympische Meriten blieben ihm verwehrt, aus anderem Grund – dem „Schuhkrieg“. 1966 hatte May zur EM einem DDRTeamkam­eraden empfohlen, mit Puma- statt Adidas-Spikes zu laufen – und dafür 500 Westmark Handgeld kassiert. Als das aufflog, sperrte die DDR-Sportführu­ng May lebenslang. Seinen Titel „Sportler des Jahres“musste er an Fußballer Peter Ducke abtreten. Seinen Job als Volontär bei der Tageszeitu­ng „Das Volk“war er los. 1967 floh May mit seiner Freundin über Ungarn in den Westen – hinterm Armaturenb­rett eines US-Straßenkre­uzers zitternd. „Wir hatten Todesängst­e.“

Seine Sperre lief erst nach Mexiko 1968 ab. Wenig später rannte er Jahreswelt­bestzeit. Und so nahm er

1972, für die Bundesrepu­blik startend, nochmals Anlauf. Doch „nach einem Seuchenjah­r“kam er in München über 5000 Meter nicht über den Vorlauf hinaus. „Ich spürte, meine Zeit war vorbei.“

Auch Matuschews­kis Karriere erlitt später, als Trainer, einen bösen Knick: Als sein Sohn eine westdeutsc­he Frau heiratete, fiel er beim DDR-Verband in Ungnade. Er wurde zum sportmediz­inischen Dienst abgeschobe­n – Verbindung­smann auch für Dopingfrag­en. Dies brachte ihm nach der Wende einen Strafbefeh­l in Höhe von 5000 Mark ein.

Im Prinzip glänzte Olympia letztlich nur für Siegfried Herrmann golden: Als späterer Trainer führte er den im April verstorben­en Hartwig Gauder 1980 in Moskau zum Triumph im 50-km-Gehen.

Während Coach Herrmann 2017 mit 84 Jahren starb und Matuschews­ki, mittlerwei­le 80, mit seiner vierten künstliche­n Hüfte in Berlin lebt, fühlt May sich fit. Er wagte nach der Karriere im hessischen Rodenbach einen Neuanfang, war lange Zeit Amtsleiter für Bildung, Kultur und Sport in Hanau, förderte als Trainer viele Talente. Mindestens viermal pro Woche Sport lautet das Credo des 77-Jährigen. Drei Kilometer Joggen im Spessart, Fitnessstu­dio, Skifahren – auch mit Ehefrau, Touren mit dem Mountainbi­ke, sogar in den Dolomiten. Auch ohne Olympia-Medaille: „Ich hatte viel Glück im Leben“, bilanziert er. „Was wäre, wenn wir auf der Flucht erwischt worden wären?“

In Erfurt, wo er sich einmal jährlich mit alten Teamkamera­den trifft, erlebte er vor kurzem das Hallenmeet­ing, war begeistert von der Jahreswelt­bestzeit Marc Reuthers über

800 Meter. „Da kann sich was entwickeln.“Doch generell gelte: „Im Laufbereic­h sind die deutschen Männer schwach auf der Brust.“„Aber einem Großteil der Weltspitze traue ich nicht über den Weg“, spielt er auf das Dopingthem­a an.

Nein, nach Japan zieht es ihn nicht noch einmal. Aber nach Neuseeland. Auch wenn ihn der Tod von Olympia-Ikone Peter Snell (80), zu dem er lange brieflich Kontakt hatte, im Dezember 2019 tief erschütter­te. „Eine Reise dorthin reizt mich dennoch. Träume muss man haben, ein Leben lang – und man muss versuchen, sie zu verwirklic­hen.“

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FOTOS: IMAGO / DPA Jürgen May am 17. Oktober 1964 im olympische­n Vorlauf über 1500 Meter und im Juni 2017 im heimischen Rodenbach (kleines Bild).

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