Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)
Wie groß ist die Kriegsgefahr? Die Ukraine warnt: Bald sind 110.000 russische Soldaten an der Grenze. Leiter der Präsidialbüros fordert mehr militärische Unterstützung vom Westen
Liebe Leserinnen, liebe Leser. Wir kennen uns in Thüringen aus mit geteilten Dörfern. Mödlareuth beispielsweise. Oder einst Stützerbach. Da war lange der sprichwörtlich durch das Dorf fließende Bach die Grenze zweier Herzogtümer.
Weil wir uns auskennen mit getrennten Dörfern, ist hier auch die Lage von Krummesse interessant. Nie gehört? So ging es mir bis Freitag auch. Krummesse in SchleswigHolstein ist das Dorf mit zwei Systemen in der Coronazeit: Es gibt unterschiedliche Regelungen, weil es halb zu Lübeck und halb zum Herzogtum Lauenburg gehört. Und da in Lübeck aktuell eine Sieben-Tage-Inzidenz von 62 herrscht – jedenfalls war das gestern so –, darf dort die Außengastronomie öffnen. Im Herzogtum Lauenburg allerdings gibt es eine Inzidenz von
Yippie, in dieser Woche gab es mal keine MPK. Also, glauben wir. Die Abkürzung für Ministerpräsidentenkonferenz kennt gefühlt inzwischen jeder Grundschüler. Das nennt man dann wohl politische Bildung. Für irgendetwas muss eine nicht in den Griff zu kriegende Corona-Krise ja gut sein. Früher hätten wenig waffenaffine Zeitgenossen die drei Buchstaben eher für die Typenbezeichnung einer Schnellfeuerflinte der Bundeswehr gehalten.
Aber sei’s drum. Auch ohne MPK ist jede Menge los. Aber bald eben nicht mehr. Perspektivisch könnten nämlich zu abendlicher Stunde Ausgangssperren drohen. Zwischen neun Uhr abends und fünf Uhr morgens, lautet der Vorschlag.
Das macht Sinn, müssen sich besonders weitsichtige Experten gedacht haben, weil das Gros dieser Zeitspanne ohnehin in den natürlichen Schlafrhythmus des Durchschnittsdeutschen fällt. Die jüngere Zielgruppe soll ruhig meutern. Sie scheint nicht wahlentscheidend zu sein. Generationengerechtigkeit war gestern.
Besonders hilfreich dabei: dass selbst qua Parteibuch befreundete Auskenner nicht mit einer Stimme sprechen. So wie etwa Karl Lauterbach und Georg Maier. Der Gesundheitsexperte der SPD-Bundestagsfraktion ist für eine Ausgangssperre, weil sie beispielsweise in Portugal, England und Frankreich eine wichtige Rolle bei der Pandemiebekämpfung gespielt habe.
Der sozialdemokratische Landesvorsitzende und Thüringer Innenminister hält sie für überzogen. Unter anderem weil die Polizei Verstöße gegen die Ausgangssperre über 150 – und damit kommt in dem Teil von Krummesse die Notbremse zur Anwendung. Im Lauenburger Teil bleibt also die Außengastronomie geschlossen und Bewohner dürfen höchstens einen weiteren Menschen treffen. Es gebe daher viele Nachfragen von Einwohnern, müssten sich doch unmittelbare Nachbarn durch die unterschiedlichen Regelungen anders verhalten, berichtet Bürgermeister Fiebelkorn über seine 2800 Einwohner, 1000 davon leben im Lübecker Teil.
Ein wenig erinnert dies alles an jenes Spülmittel, das manchen half, früh fertig zu sein, während die anderen noch Geschirr wuschen. Und wenn jetzt die Ausgangssperre kommt, schlafen die einen Krummesser schon, während die anderen noch feiern. Verrückte Zeiten. sowieso nicht kontrollieren könne. Aber vor allem, weil die Menschen ein feines Gespür dafür haben, „wenn der Staat über das Ziel hinausschießt“.
An dieser Stelle geben wir Maier mal Recht. Zu mehr Akzeptanz führt dieser weitreichende Eingriff in die Grundrechte sicher nicht.
All das hat mit Führung und einem klaren Kompass nichts mehr zu tun. Dabei wäre der doch gerade so wichtig.
Kakophonie statt klarer Kante herrscht auch an der Thüringer Bildungsfront vor. Viele der E-Mails mit diversen Anhängen aus dem Bildungsministerium und vom Landesdatenschützer, die in den Schulen eintrudeln, können aus Gründen pädagogischen Selbstschutzes von den Lehrern nur noch abgeheftet, aber nicht mehr gelesen werden. Beide Behörden haben derart unterschiedliche Rechtsauffassungen in Bezug auf Selbsttests, dass alle Betroffenen spätestens jetzt wissen, warum es heißt: Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand.
Während der freistaatliche Dreimaster mit erheblicher Schlagseite durch das Pandemische Meer dümpelt, könnte man die vielen Detailscharmützel sogar noch für amüsant halten. Wenn es nicht um eine schwere Krise in Zusammenhang mit einer todbringenden Krankheit ginge. Doch das gerät immer mehr in Vergessenheit.
So langsam breitet sich über vielen eine bleierne Gleichgültigkeit aus, die viel Frust unter sich begräbt. Deshalb scheint der Gefühlszustand der Republik und des Freistaats mit einem Wort sehr gut beschrieben: mütend.
Berlin.
Die Warnung fand hinter verschlossenen Türen statt. Hochrangige Beamte des ukrainischen Verteidigungsministeriums malten Mitte dieser Woche in der geheimen Sitzung eines Parlamentsausschusses in Kiew ein „Katastrophenszenario“aus. Russland arbeite an einer Begründung, in der Donbass-Region im Osten des Landes einzumarschieren, betonten die Beamten. Sie verwiesen dabei auf den Tod eines fünfjährigen Jungen in der Ortschaft Olexandriwske im Donezker Separatistengebiet Anfang April.
Prorussische Medien in der Region hatten berichtet, dass ukrainische Soldaten eine Drohne mit einem Sprengsatz in den Hof des Einfamilienhauses geworfen hätten, die 66-jährige Großmutter des Jungen sei schwer verletzt worden. „Das ist eine russische Propagandalüge. In Wahrheit ist der Junge auf eine Mine getreten“, erklärte ein ukrainischer Diplomat.
In Kiew befürchtet man, dass aus einem ähnlichen Zwischenfall ein Krieg entstehen könne. „Die massive Konzentration der russischen Truppen an der Grenze zur Ukraine und auf der Krim hat nur einen Grund: Moskau sucht einen Anlass, um eine Provokation zu konstruieren“, sagte der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, unserer Redaktion. „So wird ein Casus Belli, ein Kriegsgrund, geschaffen, womit Russland eine neue groß angelegte Intervention nicht nur im Donbass, sondern auch im Süden von der Halbinsel rechtfertigen würde.“
Vor diesem Hintergrund appelliert die Regierung in Kiew an den Westen, die Ukraine aufzurüsten. „Wir benötigen sehr die Ausweitung der militärischen Unterstützung, um den Preis einer möglichen Aggression gegen die Ukraine zu erhöhen“, sagte der Chef des Präsidialbüros
Ein Video zeigt, wie sich Militärfahrzeuge im russischen Maslovka positionieren. Der Ort gehört zur Region Woronesch nahe der ukrainischen Grenze.
in Kiew, Andrij Jermak, unserer Redaktion. Gegenüber dem USMagazin „Time“hatte Jermak gefordert: „Wo stationieren die USA Patriot-Raketen? Die nächsten befinden sich in Polen. Sie sollten hier sein.“Jermak, der für die ukrainische Regierung die Donbass-Verhandlungen leitet, fügte gegenüber unserer Redaktion hinzu: „Die Ukraine steht heute an der vordersten Frontlinie zum Schutz der demokratischen Werte. Und sie erwartet die einstimmige Unterstützung unseres Strebens, Teil der Nato zu werden.“
Weltweit wächst die Sorge vor einem Waffengang in der Ostukraine. Die Organisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) warnte vor einer „akuten Kriegsgefahr“. Nach Angaben aus Kiew sind bislang fast
90.000 russische Soldaten an der Grenze zur Ukraine stationiert. Bis zum 20. April würden 110.000 russische Militärs erwartet, betonte der Chef der Aufklärungsabteilung im ukrainischen Verteidigungsministerium, Krylo Budanov. Allein auf der Halbinsel Krim befänden sich
32.000 von Moskau entsandte Kräfte, heißt es in Kiew. In den prorussischen „Volksrepubliken“Donezk und Luhansk seien 32.000 russische Soldaten und kremlnahe Separatisten konzentriert.
Seit Mitte Februar hatten sich die Kämpfe zwischen der ukrainischen Armee und den prorussischen Rebellen entlang der mehr als 400 Kilometer
langen Kontaktlinie verschärft. Trotz einer seit Juli 2020 geltenden Waffenruhe kamen allein seit Jahresbeginn fast 60 Menschen ums Leben. Nach UN-Schätzungen wurden infolge der sieben Jahre andauernden Gefechte mehr als 13.000 Menschen getötet. Der Konflikt begann mit der Annexion der Krim durch Russland 2014.
Deutschland, Frankreich und die Ukraine verlangten einen Abzug der russischen Truppen von der Grenze zur Ukraine. Ziel sei eine „Deeskalation der Lage“, erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert am Freitag nach Beratungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und dem ukrainischen Staatschef Wolodymyr Selenskyj.
Merkel und Macron unterstrichen nach der Videokonferenz ihre „Unterstützung für die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine“. Macron hatte Selenskyj zuvor in Paris empfangen. Der ukrainische Staatschef rief Russlands Präsidenten Wladimir Putin danach zu einem Gipfeltreffen im sogenannten NormandieFormat auf. Ende 2019 hatten sich Putin und Selenskyj erstmals unter Vermittlung von Merkel und Macron in Paris getroffen.
Russland bestreitet die Absicht eines Einmarschs in den Donbass. Allerdings hatte Moskau offen mit einem Eingreifen gedroht, sollte das ukrainische Militär eine neue Offensive gegen die Rebellengebiete im Osten einleiten. Es warf seinerseits Kiew eine Anheizung des Konflikts vor. Die Konzentration der Truppen entlang der Grenze zur Ukraine begründete der Kreml als Teil eines Militärmanövers, das Ende April abgeschlossen sei.
In Kiew schenkt man derlei Beteuerungen wenig Glauben. Da ein Beitritt zu EU und Nato eher als mittel- bis langfristiges Projekt gilt, setzt die Regierung kurzfristig auf mehr wirtschaftliche Strafmaßnahmen gegen Russland. Der Chef des Präsidialbüros in Kiew, Jermak, formuliert es so: „Die Ukraine unterstützt sehr die Sanktionspolitik des Westens und glaubt, dass diese sogar bis zur Befreiung aller unserer Territorien – der Krim und des Donbass – verschärft werden muss.“