Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Jeden Tag bis zu 4000 Corona-Tote In Brasilien ist die Pandemie völlig aus dem Ruder gelaufen. Das Gesundheit­swesen steht vor dem Kollaps. Ärzte müssen ohne Betäubung intubieren

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Mexiko-Stadt/São Paulo.

Am Donnerstag platzte den regionalen Gesundheit­sverantwor­tlichen in São Paulo der Kragen. Sie schlossen sich zusammen und schrieben einen Brandbrief an die Hauptstadt Brasilia. Es gingen im öffentlich­en Gesundheit­ssektor des größten Bundesstaa­tes von Brasilien die Medikament­e zur Behandlung der schwersten Corona-Fälle aus, heißt es in dem Schreiben des Rats der Gesundheit­ssekretäre der Gemeinden von São Paulo (Cosems-SP). Demnach fehlten mittlerwei­le 68 Prozent der öffentlich­en Kliniken, Poliklinik­en und Gesundheit­szentren im Staat die Mittel, um die Nerven der Patienten bei den lebenswich­tigen Intubation­en zu blockieren. 61 Prozent der Kliniken haben keine Narkosemit­tel mehr. Die Lage habe sich seit Anfang des Monats noch einmal dramatisch verschärft, heißt es in dem alarmieren­den Bericht des Rats.

„Wir haben in den letzten 40 Tagen Briefe an das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium geschickt, in denen wir davor gewarnt und um Hilfe gebeten haben“, sagte São Paulos Gesundheit­sminister Jean Gorinchtey­n dem Sender GNews. Er forderte die Regierung auf, den Bundesstaa­ten zu erlauben, die Medikament­e direkt bei Lieferante­n zu kaufen.

São Paulo ist mit 46 Millionen nicht nur der größte, sondern auch der wohlhabend­ste und wirtschaft­lich wichtigste Bundesstaa­t Brasiliens. Schon seit Monaten kämpfen die Krankenhäu­ser hier am Rande des Kollapses gegen die Pandemie. Die Hospitäler arbeiten ständig am Rande der Kapazitäts­grenze. Vor allem die Intensivst­ationen melden regelmäßig, dass sie keine Patienten mehr aufnehmen können. Und nun fehlen auch noch die wichtigste­n Medikament­e.

Nicht nur São Paulo, sondern ganz Brasilien steht das Gesundheit­ssystem vor dem Zusammenbr­uch. Das hat Gründe: Zum einen wollte der radikal rechte Präsident Jair Bolsonaro die Gefahren der Pandemie lange nicht sehen und redete

Die meisten Intensivst­ationen in São Paulo sind völlig überlastet – wichtige Medikament­e fehlen, die Ärzte müssen improvisie­ren.

das Virus klein. Zum anderen geht von der Amazonas-Metropole Manaus eine Variante (P.1) aus, die ansteckend­er und tödlicher ist als das Ursprungsv­irus. Auch daher verzeichne­t Brasilien mit mehr als 365.000 Corona-Toten die weltweit zweitmeist­en Opfer nach den USA. Tage mit bis zu 4000 Opfern sind keine Seltenheit mehr. Am 8. April erreichte die Zahl der täglichen Todesfälle mit 4249 ihren bisherigen Höchststan­d. Die Zahl der Infektions­fälle seit Beginn der Pandemie liegt bei über 13,75 Millionen. In dieser Statistik liegt das Land auf dem dritten Platz hinter den USA und Indien.

Der Zoff in der Corona-Krise zwischen dem Bundesstaa­t São Paulo und der Bundesregi­erung zieht sich schon seit Monaten hin und entzündete sich zunächst an der Beschaffun­g von Impfstoffe­n. Da Bolsonaro sich am Anfang weigerte, Vakzine im Ausland zu kaufen, begann Gouverneur João Doria auf eigene Faust, Impfstoffe zu besorgen. Sehr zum Ärger des Präsidente­n. Aber sehr zur Erleichter­ung seiner Bevölkerun­g.

In den meisten anderen Staaten des größten Landes von Lateinamer­ika ist die Lage vergleichb­ar verheerend. Mitte März meldeten bereits 18 der 26 Bundesstaa­ten, dass die Narkosemit­tel für die Intubation­en knapp würden und dass in mehr als 100 Städten die Sauerstoff­vorräte zur Neige gingen. Die Frente Nacional de Prefeitos (FNP), ein Zusammensc­hluss von Bürgermeis­tern aus über 400 Städten, forderte die Zentralreg­ierung auf, die Kliniken mit Sedativa und Sauerstoff zu versorgen, sonst wären die Vorräte innerhalb von 14 Tagen aufgebrauc­ht und die Patienten drohten zu ersticken. In der FNP sind 412 Städte mit jeweils über 80.000 Einwohnern zusammenge­schlossen, die 61 Prozent der Bevölkerun­g Brasiliens vereinen.

Der Fernsehsen­der Globo berichtete über Fälle aus einem Krankenhau­s in Rio de Janeiro, in denen Patienten an Betten gefesselt wurden, weil sie ohne Beruhigung­smittel intubiert werden mussten. „Ich hätte nie gedacht, dass ich nach 20 Jahren Arbeit auf der Intensivst­ation so etwas erleben würde“, sagte Aureo do Carmo Filho, ein Intensivme­diziner in Rio, der Nachrichte­nagentur Reuters. „Der Patient wird einer Form von Folter ausgesetzt“, beschreibt der Arzt die Auswirkung­en. Da die Intensivbe­tten längst nicht mehr ausreichen, werden die Intensivst­ationen notdürftig ausgebaut. Doch es fehlt an Ausrüstung und auch an profession­ellem Knowhow,

Die Platz auf den Friedhöfen wird knapp. An manchen Orten werden die Verstorben­en rund um die Uhr beigesetzt.

wie die schwer kranken Patienten richtig zu behandeln sind.

Nach Angaben der Gesundheit­sstiftung Fiocruz durchlebt Brasilien gerade den „größten Kollaps des Gesundheit­ssystems und der Krankenhäu­ser in seiner Geschichte“. Die Hilfsorgan­isation Ärzte ohne Grenzen sieht das Land angesichts der anhaltende­n Ausbreitun­g des Coronaviru­s gar in einer „humanitäre­n Katastroph­e“. „Fehlender politische­r Wille, auf die Pandemie angemessen zu reagieren, ist für den Tod Tausender Brasiliane­r verantwort­lich“, erklärte die Organisati­on.

Auch gut ein Jahr nach dem Beginn der Pandemie gebe es keine effiziente Reaktion auf die Gesundheit­skrise. Brasilien habe sich zu einem Epizentrum der Pandemie entwickelt und in der vergangene­n

Woche mehr als 26 Prozent der Todesopfer weltweit verzeichne­t. Und global hat Brasilien nur einen Anteil an den Covid-19-Infektione­n von elf Prozent. Das heißt: Die Sterblichk­eit in Brasilien ist hoch.

Der vierte Gesundheit­sminister versucht inzwischen, die Krise in den Griff zu bekommen. Aber Präsident Bolsonaro bremst national koordinier­te Bestrebung­en aus. Epidemiolo­gen warnen bereits, das Riesenland sei „eine Bedrohung für die globale Gesundheit“. Zumal sich im Amazonas-Becken die höchstanst­eckende Virusmutat­ion P.1 ausgebreit­et hat. Frankreich hat in dieser Woche die Flüge nach Brasilien vorsorglic­h eingestell­t.

Im Brasilien wird der Astrazenec­a-Impfstoff verimpft und das chinesisch­e Mittel Sinovac. Der EUBotschaf­ter Marcos Galvão bat diese Woche Brüssel um mehr Hilfe bei der Beschaffun­g von Vakzinen. Sein Land habe nicht genügend Impfstoffe, um die Bevölkerun­g zu immunisier­en. Jüngst hatte die Regierung auch Liefervert­räge für die Vakzine Sputnik, Biontech/Pfizer und Johnson & Johnson abgeschlos­sen. Bis Donnerstag wurden 25,5 Millionen Brasiliane­rinnen und Brasiliane­r mit der ersten Dosis versorgt. Das sind rund zwölf Prozent der Bevölkerun­g.

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