Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)
„Deutschland verliert den Anschluss“
Janina Kugel zählt zu den einflussreichsten Wirtschaftspersönlichkeiten, in ihrem neuen Buch rechnet sie ab
Janina Kugel (51) war Personalvorständin der Siemens AG und verantwortlich für 380.000 Mitarbeiter. Die Mutter von Zwillingen verließ 2020 das Unternehmen, heute berät sie die Bundesregierung und ist Senior Advisor der Boston Consulting Group. Während der Pandemie hat sie ein Buch geschrieben: „It’s now: Leben, führen, arbeiten – Wir kennen die Regeln, jetzt ändern wir sie“. Darin kritisiert sie mangelnde Innovationskraft und vor allem: dass die Krise nicht als Chance begriffen wird.
Die Welt bekämpft die Pandemie, die Wirtschaft strauchelt. Warum sagen Sie jetzt „It’s now“?
Janina Kugel: Weil es ist an der Zeit ist zu handeln! Deutschland verliert geraden den Anschluss an andere Länder, wir sind nicht mehr überall die Nummer eins.
Welche Chancen ergeben sich aus der Corona-Krise für Deutschland?
Eine Krise zeigt schonungslos, welche Probleme es schon vorher gab. Nach einem Jahr Pandemie kann ich leider feststellen: Wir haben keine gesellschaftlich-strukturellen Probleme behoben.
Könnten Sie ein Beispiel nennen?
Während der Pandemie leisten viele Männer zu Hause mehr CareArbeit, also Hausarbeit, Kinderbetreuung und Pflege von Angehörigen. In dieser Situation hätte man auch die Chance gehabt, das Elterngeld zu reformieren, um den CareGap zu schließen und strukturell etwas zu verändern. Aber bisher hat die Politik das Momentum verpasst. Stattdessen gab es eine Diskussion um eine Neuauflage der Pkw-Abwrackprämie.
Woran liegt das?
Länder, die sich schneller gesellschaftlich verändern, verharren nicht so sehr wie Deutschland in der Vergangenheit. Manche der asiatischen Länder beispielsweise, die auch eine jüngere Bevölkerung haben, hatten nicht so viele Erfolge in der Vergangenheit. Sie sind hungrig. Deutschlands Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg ging nur bergauf. Das wirkt bis heute nach. Aber die Vergangenheit reicht nicht aus, um die Zukunft zu definieren. Außerdem ist Deutschland kein Land, das sehr offen ist für Neues oder in dem Scheitern toleriert wird. Deutschland liebt die geraden Lebenswege und nicht die Brüche. Doch jeder weiß, dass gerade die Brüche und Krisen Chancen in sich bergen.
Vielleicht schaut man in Deutschland nicht gern von anderen ab?
Ja, das ist so. Ich sage immer „Copy with pride!“. Warum das Rad neu erfinden, wenn es andere Organisationen, Länder oder Unternehmen schon längst erschaffen haben. Ich habe mich zu Beginn der Pandemie gefragt: Wann fährt eine deutsche Delegation nach Taiwan? Die haben beim Sars-Virus viel gelernt und haben Corona bei geöffneten Schulen und Geschäften sehr gut unter Kontrolle.
Sie haben mit Kindern eine beispiellose Karriere gemacht. Wie hart war das?
Das war natürlich sauanstrengend. Und alle Eltern wissen das. Aber es hat mich ja keiner gezwungen. Ich wollte beides: Kinder und Karriere. Und ich bereue es nicht. Dafür musste ich mich sehr organisieren und mir eingestehen: Ich kann nicht alles. Zeit für mich hatte ich selten bis nie, müde war ich immer. Das einzige Hobby, welches ich mir zugestand, war das Laufen. Ich möchte aber auch Mut machen, dass es möglich ist. Meine erste beren rufliche Sozialisierung erlebte ich in den USA und Skandinavien. Als ich als Beraterin in einem skandinavischen Unternehmen eingesetzt war, verließ das gesamte Management um 17 Uhr das Büro – Männer und Frauen. In Deutschland dagegen heißt es immer: entweder – oder. Die Rollenbilder sind in Deutschland zementiert.
Sie selbst haben immer Vollzeit gearbeitet, sind 15 Wochen nach der Geburt Ihrer Zwillinge wieder zurückgekehrt. Warum?
Ansonsten wäre mein Job als Abteilungsleiterin weg gewesen. Meinem Chef habe ich vor der Geburt gesagt: Ich möchte wiederkommen. Für ihn war das kein Problem. In der Ebene darüber hat man aber gemeint: Die kommt nie wieder, und wir suchen eine Nachfolge. Natürlich hatte ich einen rechtlichen Anspruch darauf, einen vergleichbaJob zu bekommen. Aber ich habe oft genug gesehen, was es in der Realität bedeutet: Sie kriegen das gleiche Geld und machen irgendetwas anderes. Das wollte ich nicht.
Regelarbeitszeit in Deutschland sind acht Stunden pro Tag und nicht mehr als eine 40-Stunden-Woche. Oft sind 40 Stunden schon nach vier Tagen erreicht. Brauchen wir neue Gesetze?
Die EU lässt längst eine 48-StundenWoche zu, nur ist das noch nicht in deutsches Recht umgesetzt. Zudem wird in Deutschland starr an der Elf-Stunden-Unterbrechung festgehalten. Natürlich ist das sinnvoll in manchen Jobs. Doch für uns als WissensarbeiterInnen heißt das: Es müssen immer elf Stunden zwischen der letzten E-Mail am Abend und dem Arbeitsbeginn am nächsten Morgen liegen. Das führt zu zahlreichen Arbeitszeitverstößen. Hier ist Deutschland schwer geprägt durch die Industrialisierung – eine Flexibilisierung ist überfällig: Wenn Sie Ihre Arbeit schon bis Donnerstagabend erledigt haben, dann ist der Freitag halt frei. Österreich hat diesen Schritt vor einem Jahr gemacht, und ich habe bislang keine Klagen gehört.
„Jedes Kind führt eine Frau mehr in Richtung Altersarmut.“