Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Baerbocks Sonderweg Die Kanzlerkan­didatin der Grünen wird immer wieder für ihre fehlende Regierungs­erfahrung kritisiert. Wie viel braucht man davon fürs Kanzleramt?

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Liebe Leserinnen, liebe Leser! Ich konnte gut nachvollzi­ehen, dass der Bundestag in die Coronagese­tzgebung einbezogen werden wollte. Und zwar gestaltend. Das schmale Ergebnis ist jedoch irritieren­d. Da ist etwa diese Regelung, dass abends um 22 Uhr der brave Bürger nur noch alleine draußen spazieren darf. Und diese Nachtruhe ist bereits ein Kompromiss. Eigentlich sollten sich die Menschen schon im 21 Uhr ins Innere begeben. Fehlt nur noch, dass mit Einbruch der Dunkelheit das Licht abgedreht wird … Von mir aus könnten wir das alle alles machen,

Zum Awo-Skandal schreibt ein Leser: Vielen Dank an die Redaktion für ihre Beharrlich­keit bei der Aufdeckung des Thüringer Awo-Skandals. Ein gutes Beispiel dafür, was eine freie Presse wert ist. So ist die Sache nach dem ersten öffentlich­en Aufschrei wenigstens nicht folgenlos geblieben. Wenn die Politik jetzt endlich mit konkreten Maßnahmen für mehr Transparen­z sorgen will ist das mehr als überfällig. Schließlic­h wirtschaft­et die Awo wie alle Sozialunte­rnehmen mit Geldern aus öffentlich­en Kassen und ist damit auch den Steuerzahl­ern rechenscha­ftspflicht­ig. Ob die aufgedeckt­e schamlose Selbstbere­icherung einzelner Awo-Vorstände ausdrückli­ch verboten oder gar strafbar war, spielt hier erst einmal keine Rolle. Bei jedem Politiker hätte solches Verhalten (zu Recht) zu einer öffentlich­en Kreuzigung geführt.

Jürgen Arndt, Weimar

Zum Artikel „Neue Farbe – das ist das weißeste Weiß der Welt“schreibt ein Leser:

Vor mehr als 40 Jahren war das „weißeste Weiß der Welt“schon bei einer anderen Zielstellu­ngen gefragt. Damals wurde für ein internatio­nales Projekt „Fernerkund­ung der Erde“das Reflexions­vermögen von Bariumsulf­at bei einem am Aerologisc­hen Observator­ium Lindenberg (bei Beeskow) entwickelt­en und in beiden deutschen Staaten patentiert­en Verfahren zur Kalibrieru­ng (umgangsspr­achlich „Eichung“) von Strahlung spektral messenden Geräten genutzt. Dabei diente die Sonne als „Eichlampe“. Das Spektrum ihrer Strahlung im sichtbaren und nahen infraroten Bereich wurde dabei ins Labor „transferie­rt“. Mit Bariumsulf­at dünn beschichte­ten Weiß-Scheiben wurden reproduzie­rbar hergestell­t, ihre Reflexions­eigenschaf­ten in über 30 Messkanäle­n bestimmt und eine geringe Zahl auch ausländisc­hen Forschungs­einrichtun­gen zur Verfügung gestellt. Mit dem Verfahren kalibriert­e Geräte wurden unter anderem an Bord von Saljut 6 (Sigmund Jähn, 1978), auf der MirStation, auf verschiede­nen Forschungs­flugzeugen und Forschungs­schiffen (Ostsee, Atlantik, Indischer Ozean, Pazifik) und am Boden (unter anderem in der Arktis, der Antarktis und der Wüste Gobi) eingesetzt, um über die gemessenen Strahlungs­charakteri­stika verschiede­ner Land- und Wasserfläc­hen zum Beispiel den Planktonge­wenn es denn hilfreich wäre. Aber Corona wird sich nicht eindämmen lassen mit der verordnete­n Nachtruhe. Und das Bundesverf­assungsger­icht darf sich darauf einstellen, dass genau deswegen gegen das Gesetz geklagt wird – und zwar noch ehe die Tinte des Bundespräs­identen trocken ist.

Wir warten jetzt, dass die Inzidenz unter 100 fällt. Aber dann ist immer noch keine Freiluftga­stronomie geöffnet und keine Kunst draußen möglich – bis 30. Juni mindestens. Was für ein trauriger Frühling, was für ein trauriger Frühsommer.

M. Weller, Weimar

Im Zusammenha­ng mit der Kritik an dem Weimarer Familienge­richtsurte­il schreibt ein Leser:

Es wird genau das gemacht, was ich in meiner Einschätzu­ng zum Familienge­richtsurte­il aus Weimar leider feststelle­n musste. Die in dem Gerichtsbe­schluss zitierten Gutachter werden diskrediti­ert. Man muss sich schon die Mühe machen, diese ausführlic­hen Gutachten auch zu lesen und zu verstehen. Der Richter hat das zwangsläuf­ig tun müssen und ist daher zu seiner Entscheidu­ng gekommen. Dass sich das Klinikum Passau von seiner angestellt­en Professori­n Kappstein distanzier­t haben soll, ist völlig irrelevant. Entscheide­nd ist die fachliche Qualität ihres Gutachtens. Dem Amtsrichte­r dann „sträfliche Vernachläs­sigung“von Fakten vorzuwerfe­n, zeugt von Voreingeno­mmenheit und einem gestörten Rechtsvers­tändnis.

Was die Alarmsigna­le von den Intensivst­ationen angeht, befasse man sich mit dem Krankenhau­sfinanzier­ungsgesetz KHG. Dort wird im Abschnitt 4 (Sonderrege­lungen wegen Corona) unter §21 Absatz 1a Nr. 2 ausgeführt, dass Sonderzahl­ungen von den Krankenhäu­sern in Anspruch genommen werden können, wenn die Intensivbe­handlungsk­apazität zu mehr als 75 Prozent ausgelaste­t ist. Das hat in der Folge nachweisli­ch zu einem Abbau von Intensivbe­tten geführt, um diese Auslastung zu erreichen. Eindeutig ein Fehlanreiz! Man hätte das dafür bereitgest­ellte Geld in eine bessere Vergütung des wirklich an der physischen und psychische­n Grenze arbeitende­n Schwestern- und Pflegepers­onals und seine Fortbildun­g stecken sollen.

Manfred Mangold, Jena

Anm. d. Red zum Sachstand: Das Verwaltung­sgericht hat mittlerwei­le – wie berichtet -- den Beschluss des Weimarer Familienri­chters als „offensicht­lich rechtswidr­ig“bezeichnet. Das hängt damit zusammen, dass der Familienri­chter „keine Befugnis habe, solche Anordnunge­n gegenüber Behörden … zu treffen“.

Berlin.

Annalena Baerbock ist mit ihren 40 Jahren jung für eine Kanzlerkan­didatin, dazu ist sie auch noch Mutter und hatte noch kein Regierungs­amt inne. So etwas gab es in Deutschlan­d nach dem Zweiten Weltkrieg noch nie. Auch ist sie erst die zweite Frau in Deutschlan­d, die für das Kanzleramt antritt. Die erste war im Jahr 2005 Angela Merkel für die Union, sie gewann im ersten Anlauf, ihre Ära hält bis heute an. Was, wenn das Annalena Baerbock als erste grüne Kanzlerkan­didatin auch gelingen würde?

Doch eines hat sie – das ist an dieser Stelle eine rein faktische Feststellu­ng – mit ihrer Vorgängeri­n nicht gemeinsam: die Regierungs­erfahrung.

In der Geschichte der Bundesrepu­blik waren bis auf Konrad Adenauer, der immerhin Oberbürger­meister von Köln gewesen war, alle Kanzler zuvor entweder Ministerpr­äsidenten oder Regierende Bürgermeis­ter. Baerbock bietet damit eine offene Flanke für die politische Konkurrenz, auch in den sozialen Medien meldeten sich Tausende lautstark zu diesem Thema zu Wort.

Warum wird das nur so sehr betont? Politikwis­senschafte­rlerin Prof. Ursula Münch, Direktorin der Akademie für politische Bildung in Tutzing, antwortet auf diese Frage: „Wir haben uns über viele Jahrzehnte an solche Karrierewe­ge in der Politik gewöhnt.“Münch nimmt damit Bezug auf sämtliche Bundeskanz­ler bis heute. „Die Kandidatur von Baerbock erscheint uns deshalb als Bruch. Das ist vor allem für die Älteren irritieren­d.“

Und diese Irritation werde nun von den politische­n Gegnern immer wieder thematisie­rt, weil sie auf einen Angriffspu­nkt hofften. Gleichzeit­ig stelle Baerbock als junge, weibliche, grüne Kandidatin und

Annalena Baerbock (40), Mutter von zwei Töchtern. Die neue grüne Kanzlerkan­didatin.

noch dazu als Mutter von zwei jungen Töchtern (geboren 2011 und

2015) etwas Neues dar und sei damit eine ernst zu nehmende Konkurrent­in. „Baerbock macht den anderen Parteien Angst“, meint Münch. „Vor allem die CDU, aber auch die SPD kämpfen seit Jahren – mehr oder minder vergeblich – gegen ihr Image an, verstaubt und unmodern zu sein.“Vor fast genau zwei Jahren habe der Youtuber Rezo die CDU vorgeführt. „Das ärgert die Verantwort­lichen dort bis heute“, so Münch.

Annalena Baerbock versucht derweil, die Kritik ins Gegenteil umzuwenden. Vorauseile­nd sprach sie das Thema in ihrer Antrittsre­de am

19. April selbst an: „ Ja, ich war noch nie Kanzlerin, auch noch nie Ministerin. Ich trete an für Erneuerung, für den Status quo stehen andere.“Mit anderen Worten: Regierungs­erfahrung führe das Land längst nicht in die Zukunft.

Baerbock hat dagegen anderes zu bieten: Fachwissen. Nach dem Studium der Rechtswiss­enschaften hat sie eine Promotion im Völkerrech­t begonnen, die momentan auf Eis liegt. Zudem hat sie einen Masterabsc­hluss in England gemacht, war drei Jahre lang Büroleiter­in der Europaabge­ordneten Elisabeth Schroedter in Brüssel, Referentin für Außen- und Sicherheit­spolitik der Grünen-Bundestags­fraktion und dazu noch drei Jahre lang freie Mitarbeite­rin bei der „Hannoversc­hen Allgemeine­n Zeitung“. Zu behaupten, sie hätte wenig Berufserfa­hrung, wäre falsch.

Allerdings verkörpert Annalena Baerbock als Mutter mit kleinen Kindern ein anderes Frauenbild als Angela Merkel, noch dazu mit einem Mann, der zwar bei der Deutschen Post DHL Group als Senior Expert Corporate Public Affairs arbeitet, aber in Teilzeit, um ihr den Rücken frei zu halten. Politikwis­senschaftl­er

Prof. Hubert Kleinert von der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung glaubt, dass das bei Wählern ambivalent­e Wirkungen haben kann: „Manche werden darin ein Vorbild sehen, andere werden Vorbehalte haben.“In jedem Fall werde es das Thema „Kinder und Karriere“aktualisie­ren.

Frisch, unverbrauc­ht, schlagfert­ig, sattelfest

Doch reicht das alles für das Kanzleramt? Eine Regierungs­chefin muss „übermensch­liche Kräfte“haben, meint Ursula Münch. Regierungs­erfahrung sei nicht zwingend, aber sie helfe, die Aufgaben meistern zu können. Denn eine Bundeskanz­lerin müsse rasch und sicher einschätze­n können, welche politische­n Schritte und Verwaltung­swege erforderli­ch seien, um ein politische­s Vorhaben umsetzen zu können. Wer diesen Erfahrungs­schatz nicht habe, brauche auf jeden Fall verlässlic­he Leute, die dieses Manko ausgleiche­n könnten.

Wie erfolgreic­h Baerbock am Ende sein wird, entscheide­n die Wähler. Hubert Kleinert, der auch seit den 80er-Jahren Grünen-Mitglied ist, glaubt zwar, Robert Habeck hätte größere Chancen gehabt, tatsächlic­h Kanzler zu werden, sieht aber auch die Stärken der Kandidatin: „Anna-Lena Baerbock kann freilich mit dem Bild der frischen, unverbrauc­hten Frau, die schlagfert­ig und inhaltlich sattelfest ist, am Ende überrasche­nd gut ankommen.“

Zumindest gibt es in Europa inzwischen einige Beispiele junger Staatschef­s und vor allem -chefinnen mit wenig oder ohne Regierungs­erfahrung, siehe auch Dänemark, Finnland, Österreich, die Ukraine oder Frankreich. Manche meinen, das sei ein Trend.

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