Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)
Abschiebestopp nach Afghanistan
Eiliger Abzug aus Afghanistan: Die USA wollen zwei Monate früher raus. Anschläge, Bürgerkrieg und eine Machtübernahme der Taliban könnten folgen
Der Thüringer Integrationsminister Dirk Adams hat sich für einen bundesweiten Stopp von Abschiebungen nach Afghanistan ausgesprochen. Der Grünen-Politiker forderte, dass die Länder im Einvernehmen mit dem Bund einheitlich einen Abschiebestopp beschließen. Mit dem Wissen darum, dass alle Nato-Kräfte aus Afghanistan innerhalb dieses Jahres abziehen werden, müsse man eine neue Gesprächsrunde unter den Ländern eröffnen, sagte Adams. „Ich würde es gut finden, wenn wir als Länder einheitlich hier agieren.“Durch den NatoAbzug aus Afghanistan rechne Adams dort mit einer verschärften Sicherheitslage.
Berlin.
Für Afghanistan sieht Günter Burkhardt schwarz. „Afghanistan wird Taliban-Land“, sagt der Geschäftsführer der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl unserer Redaktion. Mit dem Abzug der internationalen Truppen werde sich die Sicherheitslage „dramatisch verschärfen“– schneller als angenommen. Die USA ziehen das Enddatum für den Abzug vor: vom 11. September, dem 20. Jahrestag des islamistischen Anschlags auf New York, auf den 4. Juli, ihren Unabhängigkeitstag. Die Ungewissheit ist groß, das drohende Szenario: mehr Flüchtlinge, Entwicklungshelfer in Lebensgefahr. Sorgen müssen sich die Ortskräfte machen – die einheimischen Helfer der „Ungläubigen“. Die wichtigsten Fragen:
Wie ist die Gefährdungslage?
Die aufständischen Taliban haben sich verpflichtet, die ausländischen Militärberater in Ruhe zu lassen. Aus ihrer Sicht sind die Amerikaner vertragsbrüchig, weil sie ihre Soldaten entgegen der Vereinbarung nicht zum 1. Mai abziehen. Nach dem 30. April drohen Anschläge. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) geht nach eigenen Worten „von einer erhöhten Gefährdung aus“, etwa durch Mörserbeschuss und Raketenangriffe. Die weitere Entwicklung hängt davon ab, ob es zu einer Annäherung zwischen den Taliban und der Regierung in Kabul kommt.
Wie aussichtsreich ist ein Friedensprozess?
Die Taliban haben die nächste Verhandlungsrunde auf Mai verschoben – kein hoffnungsvolles Zeichen. Im benachbarten Pakistan befürchtet man einen Bürgerkrieg. Die Folge wäre eine Massenflucht. 2020 zählte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) 9901 Asylerstanträge von Afghanen, im ersten Quartal dieses Jahres waren es 3200. Sie sind die zweitgrößte Gruppe nach den Syrern.
Welchen Einfluss haben die westlichen Staaten?
Sie hoffen, dass die Taliban an einer Rückkehr in die Weltgemeinschaft und an Finanzhilfen interessiert sind. Das Geld ist der Hebel. Außenminister Heiko Maas (SPD) kündigt gegenüber unserer Redaktion an, die diplomatischen Bemühungen zu intensivieren. Eine gute und sichere Perspektive für Afghanistan sei „in unserem europäischen Interesse.“
Droht der Zusammenbruch, wenn die westlichen Soldaten abziehen?
Die afghanischen Streitkräfte sind in der Lage, das militärische Patt zu halten. Sie haben zwei Schwachstellen: Logistik und Finanzen. Ohne westliche Hilfe kann die Regierung keinen Sold bezahlen – dann gehen die Soldaten nach Hause und überlassen das Feld den Taliban.
Wie verhalten sich die USA? US-Präsident Joe Biden wollte erst Bedingungen für den Abzug stellen. Diese Position hat er geräumt. Die Amerikaner verwarfen ferner den Plan, eine Anti-Terror-Einheit in Afghanistan bereitzuhalten. Schon das Vorziehen des Rückzugs soll die Taliban beschwichtigen. Die Botschaft: Wir treiben den Abzug ernsthaft voran. Die Taliban haben sich verpflichtet, dass Afghanistan nie wieder zum Basisland für Terroristen wird. Andernfalls würden die Amerikaner – von außen – mit Militärschlägen reagieren.
Wie reagiert die Bundesregierung? Die Bundespolizei beendet ihre Unterstützungsleistungen und die Bundeswehr ihre Beratertätigkeit zum 30. April. Danach steht der Rückzug an. Zur Absicherung soll ein Mörserzug der Bundeswehr nach Afghanistan verlegt werden, dazu kommen ebenfalls mit Mörsern ausgerüstete 80 niederländische Marineinfanteristen. Rund 1100 deutsche Soldaten sind in Afghanistan. Deutschland ist der zweitgrößte Truppensteller nach den USA.
Was passiert mit den afghanischen Ortskräften?
Für die Bundeswehr arbeiten 301 Afghanen, für Entwicklungshilfeorganisationen 1300, für das Auswärtige Amt 35 und für das Innenministerium sieben: Fahrer, Dolmetscherinnen, Projekthelfer. Sie sollen inklusive Ehepartner und minderjährige Kinder eine Perspektive in Deutschland bekommen. „Es droht eine Racheaktion der Taliban“, warnt Pro Asyl. „Die betroffenen Ortskräfte müssten aus dem Land herausgeholt werden.“Bisher muss eine Ortskraft „nachvollziehbar und glaubhaft“machen, dass sie gefährdet ist. Wenn keine Sicherheitsbedenken vorliegen, erteilt das Bundesinnenministerium die Erlaubnis für eine Aufnahme in Deutschland. Die Grünen-Innenpolitikerin Irene Mihalic dringt auf ein unbürokratischeres Vorgehen. Zudem fordert Mihalic einen Abschiebestopp.
Kann die Entwicklungshilfe weitergehen?
„Die Menschen brauchen eine Perspektive vor Ort, wenn wir Flüchtlingsströmen vorbeugen wollen“, mahnt Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) im Gespräch mit unserer Redaktion. Deshalb sei es wichtig, „dass wir den zivilen Aufbau und Entwicklung in Afghanistan auch nach Abzug der internationalen Streitkräfte fortsetzen“. Er ist auch gegen eine pauschale Aufnahme der Ortskräfte. Man sei auf sie angewiesen, „um Projekte und Programme im Land umzusetzen“.
„Wir werden unsere diplomatischen Bemühungen noch weiter intensivieren.“Heiko Maas (SPD) Außenminister