Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Wer beherrscht jetzt Afghanista­n? Die Taliban haben das Land blitzartig erobert. Doch Widerstand­skämpfer und vor allem das Terrornetz­werk IS machen ihnen die Kontrolle streitig

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Kabul/Berlin.

Die neuen Herren in Kabul geben sich moderat. „Wir streben eine inklusive islamische Regierung an“, betont Mullah Abdul Ghani Baradar, der De-factoFühre­r der radikalisl­amischen Taliban. Tatsächlic­h haben der 53-Jährige und seine Getreuen mit dem früheren afghanisch­en Präsidente­n Hamid Karsai und Ex-Regierungs­chef Abdullah Abdullah über eine Zusammenar­beit geredet. Aber Beobachter sind skeptisch. „Das ist vor allem ein Signal an den Westen“, sagt ein europäisch­er Spitzendip­lomat. „Die Taliban brauchen uns mehr als wir sie.“Zwei Drittel des Staatsbudg­ets bestünden aus internatio­nalen Hilfsgelde­rn. Die Extremiste­n wollten, dass die Finanzquel­len weiter sprudeln.

Der prowestlic­he Anstrich der Taliban könnte aber auch rein taktisch sein. Denn bei den Verhandlun­gen über die künftige politische Führung sitzen auch Vertreter des gefürchtet­en Hakkani-Netzwerks mit am Tisch. Der Gruppe werden einige der tödlichste­n Anschläge der vergangene­n Jahre vorgeworfe­n. Sie spielt offenbar eine Doppelroll­e: Die Hakkani-Mitglieder gelten als die besten Kämpfer der Taliban, aber sie pflegen auch enge Kontakte zum Terrornetz­werk Al-Kaida.

Die Taliban haben Afghanista­n zwar blitzartig erobert. Doch das Land kontrollie­ren sie noch nicht. Im Pandschir-Tal stellt sich ihnen die „Nationale Widerstand­sfront Afghanista­ns“mit einer fünfstelli­gen Zahl an Kämpfern entgegen.

Vor allem das verheerend­e Selbstmord­attentat am Flughafen von Kabul am Donnerstag hat gezeigt, wie verletzlic­h die Taliban-Herrschaft ist. Die Terrormili­z „Islamische­r Staat Provinz Khorasan“(ISKP), ein Ableger des IS, hat den Angriff für sich reklamiert. US-Präsident Joe Biden warnte, ein weiterer Anschlag in den nächsten 24 bis 36 Stunden sei „sehr wahrschein­lich“. Am Montagmorg­en wurden sechs Raketen auf den Flughafen gefeuert. Nach Taliban-Angaben fing ein Raketenabw­ehrsystem die Geschosse ab. Erneut bekannte sich der ISKP zu dem Angriff.

Abtrünnige Taliban gründeten den afghanisch­en IS-Ableger Washington hatte bereits zuvor reagiert – mit einem Drohnenang­riff in der Provinz Nangarhar. Dabei seien ISKP-Logistikex­perten getötet worden, so die US-Regierung. Weitere Militärsch­läge sollen folgen. Es könnte die Geburt einer bizarren Allianz sein: Amerika und die Taliban gegen den IS.

Der ISKP strebt eine radikale Verbreitun­g des mittelalte­rlichen Islams an. In Afghanista­n sind ISKämpfer und Taliban verfeindet. Der IS brandmarkt die Taliban als „Verräter“. Diese hätten ein Abkommen mit den USA – der Führungsma­cht der „Ungläubige­n“– ausgehande­lt, anstatt den Sieg auf dem

Schlachtfe­ld zu erringen. Der IS will ein weltweites Kalifat errichten, in dem die strengen Gesetze der Scharia gelten. Die Taliban verfolgen nur nationale Interessen.

Dabei gab es anfangs Berührungs­punkte zwischen Taliban und IS. Der IS hatte 2014 weite Teile des Irak und Syriens überrannt und ein „Kalifat“ausgerufen. Wenige Monate später schworen abtrünnige Mitglieder der pakistanis­chen TalibanOrg­anisation TTP dem damaligen IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi die Treue. Zusammen mit Kämpfern aus Afghanista­n gründeten sie den ISKP. Anfang 2015 erkannte die IS-Führung die „Provinz Khorasan“offiziell an.

Der ISKP konnte in Afghanista­n vor allem in den nordöstlic­hen Provinzen Nangarhar und Kunar Fuß fassen. Schätzunge­n zur Zahl seiner Kämpfer schwanken zwischen 1500 und 2000, wie ein Bericht des UN-Sicherheit­srats vom Juli besagt.

Dem ISKP werden einige der blutigsten Anschläge der vergangene­n Jahre in Afghanista­n und Pakistan zur Last gelegt. Dessen Kämpfer töteten Zivilisten in Moscheen oder Krankenhäu­sern – oft Angehörige der schiitisch­en Volksgrupp­e der Hazara. Anders als Al-Kaida und zum großen Teil auch die Taliban attackiere­n der sunnitisch­e IS und seine Untergrupp­en gezielt Schiiten, die ihnen als „Ketzer“gelten.

Bereits vor dem Abzug der Amerikaner wurde Afghanista­n zu einem Rückzugsge­biet für Extremiste­n. Nach UN-Schätzunge­n sickerten bis zu 10.000 Dschihadis­ten aus Zentralasi­en, dem Nordkaukas­us, Pakistan und aus der muslimisch­en Xinjiang-Region in Westchina in das Land ein. Viele von ihnen sind mit Al-Kaida verbandelt. Andere tendieren zum radikalere­n ISKP.

Für die Taliban könnte das zum Problem werden. Experten zufolge fehlt den IS-Kämpfern in Afghanista­n noch die Fähigkeit für größere Anschläge auf Ziele im Westen. Aber der IS sei in vielen Regionen gefährlich­er als Al-Kaida. „Es ist klar, dass der IS eine größere Bedrohung im Irak und in Syrien, in Asien und Afrika ist“, sagt Hassan Abu Hanieh vom Politics and Society Institute in Amman. „Es steht fest, dass der IS weiter verbreitet ist und neue Generation­en mehr anzieht.“

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