Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)
Lage auf Intensivstationen verschärft sich Zahl der Covid-Intensivpatienten liegt über 1000er-Marke. Klinikbelegung soll neuer zentraler Maßstab werden
Berlin.
Die Sieben-Tage-Inzidenz steigt über 75, auf den Intensivstationen liegen wieder mehr als 1000 schwer kranke Covid-19-Patienten – so startet Deutschland in den September. Doch was bedeuten diese Zahlen konkret für die CoronaPolitik? 18 Monate lang hat das Land jeden Morgen als Erstes auf die Corona-Fallzahlen geschaut. Die Sieben-Tage-Inzidenz bei den Neuinfektionen war der wichtigste Maßstab für die Lage, für Lockdown und Lockerungen. Jetzt soll ein neuer Wert kommen: die Hospitalisierungsinzidenz – also die Zahl der klinisch behandelten Covid-19Patienten pro Woche auf 100.000 Einwohner. Was bringt der neue Wert – und was sagen Experten dazu?
Wie ist die Lage in den Kliniken? Am Wochenende stieg die Zahl der
Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen erstmals seit Langem wieder über die 1000er-Marke, am Montagmittag verzeichnete das Divi-Intensivregister bereits mehr als
1060 Fälle. Zum Vergleich: Auf dem Höhepunkt der zweiten Welle lagen mehr als 5500 schwer kranke Patienten auf den Intensivstationen. Aktuell ist vor allem der rasche und frühe Anstieg besorgniserregend: Die Covid-19-Kurve auf den Intensivstationen zeigt seit vier Wochen steil nach oben. „Innerhalb eines Monats hat sich die Zahl von unter 400 auf über 1000 fast verdreifacht“, sagte Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), unserer Redaktion. In einigen Regionen in Westdeutschland werde es auf den Intensivstationen schon wieder voll. „Das ist besorgniserregend.“Zumal die steigenden Zahlen anders als im letzten Jahr diesmal bereits im August zu beobachten seien. Ende August 2020 hatte die Intensivpatientenzahl gerade einmal bei 240 gelegen, erst Richtung Ende Oktober war sie im Zuge der zweiten Welle auf über 1000 gestiegen.
„Hinzu kommt noch etwas anderes: Unsere Leute sind erschöpft“, beobachtet Marx. Das Personal auf den Intensivstationen stehe nach wie vor unter Dauerbelastung. „Die Erschöpfung aus den ersten drei Wellen konnte noch gar nicht wieder aufgeholt werden. Die Kliniken haben ja keine Pause gemacht, sondern haben über den Sommer viele der verschobenen Eingriffe nachgeholt. Die meisten Beschäftigten auf den Intensivstationen hatten noch
Eine Intensivpflegerin versorgt auf der Intensivstation des Klinikums Braunschweig einen schwer kranken Covid-19-Patienten.
gar keine Gelegenheit, sich zu erholen.“
Welche Patienten kommen jetzt auf die Intensivstation?
Anders als im Vorjahr sind längst nicht mehr vor allem Senioren von schweren Corona-Verläufen betroffen: Knapp jeder zehnte derzeit auf der Intensivstation behandelte Covid-19-Patient ist nach den jüngsten Daten des Divi-Registers 30 bis 39 Jahre alt, knapp jeder fünfte 40 bis
49 Jahre. Die 50- bis 59-Jährigen stellen gut ein Viertel der Patienten, die 60- bis 69-Jährigen gut ein Fünftel. Besonders hoch ist der Anteil der Covid-19-Patienten an der Gesamtzahl der Intensivbetten derzeit in Nordrhein-Westfalen und dem Saarland.
Die allermeisten Patienten sind ungeimpfte Menschen, doch nach Impfdurchbrüchen kommen inzwischen nun auch auch Patienten mit vollständigem Impfschutz in die Kliniken, in Einzelfällen sogar auf die Intensivstation.
Gleichzeitig gilt auch in der jetzigen vierten Welle: Selbst wenn die Sieben-Tage-Inzidenz der Neuinfektionen in den kommenden Tagen nicht weiter steigen oder sogar sinken sollte, würde die Zahl der klinischen Fälle zunächst weiter zunehmen, da zwischen Infektion und Einweisung meist ein bis zwei Wochen vergehen.
Wie funktioniert der neue Klinik-Inzidenzwert?
Bund und Länder sind sich einig, dass die Zahl der Neuinfektionen angesichts des Impffortschritts nicht mehr der wichtigste Maßstab zur Beurteilung der Pandemielage und zur Begründung von CoronaMaßnahmen sein kann. In einem Vorschlag von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) heißt es, dass der alte Inzidenzwert durch einen neuen ersetzt werden soll: Die „Hospitalisierungsinzidenz“soll „wesentlicher Maßstab für die zu ergreifenden Schutzmaßnahmen“werden. Ausdrücklich sind damit alle stationär zur Behandlung aufgenommenen Covid-19-Patienten je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen gemeint – nicht nur die Intensivpatienten.
Aber: Spahn will (anders als bislang bei der 50er-Inzidenz) keinen bundesweit einheitlichen Schwellenwert für politische Maßnahmen. Stattdessen sollen die Länder „jeweils unter Berücksichtigung der regionalen stationären Versorgungskapazitäten“Schwellenwerte festsetzen, um eine drohende Überlastung der regionalen stationären Versorgung zu vermeiden.
An diesem Dienstag wollen sich die Fachpolitiker mit dem Vorschlag befassen und Experten aus der Ärzteschaft und Kommunen anhören. Besonders die Intensivmediziner sehen die neue Fokussierung auf die Klinikpatienten kritisch. Ihr Argument: Die alte Inzidenz (der Neuinfektionen) sei als Vorwarnstufe weiter wichtig.
Auch der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach sieht Schwachstellen: Die Aussagekraft der Hospitalisierungsquote sei begrenzt, weil der Wert, ab dem es kritisch werden könnte, regional sehr unterschiedlich sei. So hänge die Hospitalisierungsquote etwa davon ab, wie viele Krankenhausbetten es in einer Region gebe. Heißt: Dort, wo es wenige Betten gebe, könnte bereits bei einer niedrigen Einlieferungsquote Alarm herrschen – obwohl das Risiko für den Einzelnen womöglich gering sei. Umgekehrt könne es passieren, dass in einer Region sehr hohe Fallzahlen ohne Einschränkungen toleriert und damit Kinder stark gefährdet würden – nur weil es im Prinzip genug Klinikplätze gebe.
Bei der nächsten Bundestagssitzung am 7. September könnte die Hospitalisierungsinzidenz als neuer zentraler Maßstab neben Impfquote und Infektionszahlen im Infektionsschutzgesetz festgeschrieben werden. In welchem Bereich dann aber die regionalen Eingriffsschwellen liegen könnten, ist offen. Ginge es nach Lauterbach, würde es zumindest bundesweit einheitliche Schwellenwerte dafür geben.
Zuletzt lag die Rate der Klinikeinweisungen laut Robert-Koch-Institut (RKI) unter zwei Corona-Patienten pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen. Auf dem Höhepunkt der zweiten Corona-Welle Ende Dezember 2020 hatte der Wert aber auch schon mehr als 15 betragen, in der dritten Welle im April 2021 lag er bei knapp zehn.