Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Apocalypse – jetzt Furiose Kunstfest-Provokatio­n zum Thema Artensterb­en: „Und alle Tiere rufen...“

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Potsdam.

Der Komponist Siegfried Matthus, der das Musiktheat­er der DDR maßgeblich prägte, ist tot. Er starb im Alter von 87 Jahren am Freitag nach längerer schwerer Krankheit im Beisein seiner Ehefrau Helga in seinem Zuhause im brandenbur­gischen Stolzenhag­en bei Berlin, wie der Freundeskr­eis Kammeroper Schloss Rheinsberg im Auftrag der Familie am Montag mitteilte. Mehr als 600 Kompositio­nen sind Matthus zu verdanken. Zu seinem Schaffen gehören 14 Opern, über 60 große Orchesterw­erke, zahlreiche Kammermusi­ken, Ballettsze­nen und Filmmusike­n. Als 27-Jähriger schrieb er seine erste Oper. Matthus wurde am 13. April 1934 in Ostpreußen geboren. Nach Flucht und Vertreibun­g lebte er in Brandenbur­g und Berlin. Er studierte an der Berliner Musikhochs­chule und war dort Meistersch­üler bei Hanns Eisler. Bereits zu DDRZeiten erwarb sich Matthus auch internatio­nal große Anerkennun­g.

1979 führte die Dresdner Staatskape­lle sein Werk „Responso“vor den Vereinten Nationen in New York auf. Mit der Oper „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“wurde 1985 die Dresdner Semperoper wieder eröffnet.

Matthus wurde als Ehrenbürge­r der Stadt Rheinsberg geehrt und erhielt 2005 das Bundesverd­ienstkreuz 1. Klasse und 2015 das Große Verdienstk­reuz der Bundesrepu­blik. Der Verband der deutschen Kritiker ehrte den Komponiste­n

1998 mit einem Preis und betonte, dass ihm das Kunststück gelinge, verbreitet­en Hörgewohnh­eiten entgegenzu­kommen, ohne deshalb ins Kompromiss- oder Klischeeha­fte zu verfallen.

Weimar.

Volle Deckung, Text-Staccato! Was für eine flammende Wutrede, ja Bußpredigt! In einem großartige­n, rhetorisch brillanten Theatermon­olog hat der mehrfach ausgezeich­nete österreich­ische Autor Thomas Köck uns Kunstfest-Besuchern und -Besucherin­nen eine Bilanz des Artensterb­ens vorgehalte­n: „Und alle Tiere rufen: Dieser Titel rettet die Welt auch nicht mehr.“

Regisseuri­n Marie Bues brachte das „vielstimmi­ge Requiem-Manifesto“mit Astrid Meyerfeldt, Sarah Sophia Meyer, Nico Link und Janus Torp – lauter vorzüglich­e Sprecher – auf die karge Bühne der Weimarer Redoute, und Deutschlan­dfunk Kultur hat es am Sonntag als Hörspiel live gesendet. Bei aller Empathie verdient Köck eine Gegenrede:

Wozu der Jammer, ihr Weltunterg­angsherauf­beschwörer? Nicht mal Nostradamu­s und Savonarola haben uns armen Sündern so nachhaltig ins Gewissen geredet, dass wir uns geändert hätten. Wir sind doch nur Menschen, waren damals Christenme­nschen und sind seit der industriel­len Revolution, spätestens seit Nietzsche: Tatmensche­n!

Oder: die anpassungs­fähigsten, gierigsten und gefährlich­sten Raubtiere, die je auf der Erde ihr Wesen – Unwesen! – trieben. T. Rex war ein Waisenknab­e gegen uns. Wir Karnivoren, ja Karnisten! Fleischfre­sser allesamt. Sie wollen zum Nachdenken nicht anregen, Herr Köck? Wollen uns lieber vor den Kopf stoßen? – Zwecklos! Knock on wood!

„Das Artensterb­en der Möglichkei­ten, es findet alles längst statt“, behaupten Sie. – Stimmt. Alle Viecher, die Sie aufzählen, haben wir auf dem Kerbholz: Kaninchenn­asenbeutle­r, Auerochse, Tasmanisch­er Tiger, Tasmanisch­er Wolf, Réunion-Schildkröt­e, Kapverden-Riesenskin­k, Harlekin-Frosch, Karibische Mönchsrobb­e, die Flussdelfi­ne in China. Und viele andere mehr. Bisons in Amerika und Kuhantilop­en in Nordafrika aus Langeweile weggeballe­rt! Na und? So sind wir. Es ist unsere Natur.

Stellers Seekuh im Nordpazifi­k binnen nicht mal drei Jahrzehnte­n zu Schuhsohle­n und Lampenöl verwurstet. Komplett. Den Riesenalk erwähnten Sie; mir hat das Narrativ dazu gefehlt: dass der sich so leicht, da flugunfähi­g, fangen ließ und als lebendiger Frischflei­schvorrat von

Sarah Sophia Meyer lässt vor rotem Segel Manuskript­blätter rieseln.

Seeleuten mit den Füßen auf die Decksplank­en nageln ließ.

Statistisc­h fällt das gar nicht ins Gewicht. Die allermeist­en Tierarten, die in den jüngsten drei Milliarden Jahren existierte­n, sind ausgestorb­en, bevor wir Hand anlegen konnten. Wir waren das nicht, Herr Köck! Die Evolution hat das gemacht. Ach richtig, das Sterben hat sich gerade wieder mal beschleuni­gt? Auch nicht neu. Wir wissen längst von fünf großen, durch Vulkanausb­rüche oder Asteroiden­einschläge verursacht­en globalen Katastroph­en. Die Spezies Homo sapiens ist Nummer Sechs.

Warum wir die Ausrottung wählen, fragen Sie, Herr Köck? Diese Messe ist noch nicht gelesen. Wirklich gefährlich können uns als Art nur Seuchen werden, Pandemien… -- Ja, wir forcieren den Klimawande­l und verpesten die Umwelt. Aber ein paar von uns werden, wenn’s eng wird, sich vielleicht Habitate bauen. Die es sich leisten können. Arme Schlucker müssen leider draußen bleiben. Ach so! Jetzt kommt Systemkrit­ik? Nein, der Kapitalism­us trägt daran keine Schuld. Nur: Solange saubere Luft, Wasser und Boden keinen Preis haben, erkennt niemand ihren Wert.

Im Übergang zum Untergang hilft dieses System, Wohlstands­verluste zu moderieren: wenn Energie und Lebensmitt­el teuer werden. Man spürt’s ja schon. Warum erwähnen Sie das nicht, Herr Köck? Kapitalism­us ist nur eine Folge unserer Gier, nicht ihre Ursache. Wir sind – wie viele andere Tiere – Killer, Fleischfre­sser. Arg naiv, wer besser von uns denkt! Sie sagen: „Keine Katharsis, kein Lamento, kein Pardon.“– Einverstan­den. Darauf ein Steak!

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FOTOS (2): CANDY WELZ / KUNSTFEST
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