Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Prägende Worte über den Tod hinaus

Immer weniger Überlebend­e können noch Auskunft geben. Umso wichtiger sind Aufzeichnu­ngen

- Von Sebastian Haak

Erfurt. Wenn am heutigen Internatio­nalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts daran erinnert wird, was die Nazis von deutschem Boden aus Menschen in ganz Europa in den 1930er und 1940er Jahren angetan haben, wird es vier Jahre her sein, dass Günter Pappenheim sich im Landtag daran erinnerte, in welchem Klima er damals lebte. Da sein Vater aus einer jüdischen Familie stammte, galten Günter und seine Geschwiste­r damals als „Mischlinge 1. Grades“.

Im Januar 2018 hatte Pappenheim, Jahrgang 1925, geboren in Schmalkald­en, erzählt, wie seine Familie schon vor der Reichspogr­omnacht 1938 angefeinde­t und entrechtet worden war. So hätten einige Kinder seinem zwei Jahre jüngeren Bruder eine Schlinge um den Hals gelegt. „Wenn ich nicht eingegriff­en hätte, weiß ich nicht, ob er das überlebt hätte“, sagte Pappenheim an diesem Tag in Erfurt. Er selbst wurde später erst in ein Arbeitslag­er nahe Römhild verschlepp­t. Im Oktober 1943 kam er ins Konzentrat­ionslager Buchenwald. Er hatte für französisc­he Zwangsarbe­iter an deren Nationalfe­iertag die Marseillai­se gespielt und war denunziert worden.

Topf & Söhne macht zehn Interviews mit Überlebend­en zugänglich

All das hatte Pappenheim vor vier Jahren mit einer leisen, gebrechlic­hen Stimme erzählt. Sein Geist war noch hellwach, der Körper versagte ihm aber mehr und mehr den Dienst. Anders in einem VideoInter­view aus dem Jahr 2012. Seine Stimme damals war deutlich kräftiger. Seine Augen wacher. Seine Körperspra­che klar. Dieses Video überdauert seinen Tod, der jetzt bald ein Jahr zurücklieg­t: Am 31. März 2021 verstarb Pappenheim. Heute ist das aufgezeich­nete Gespräch im Internet zu finden, auf der Seite des Erfurter Erinnerung­sortes Topf & Söhne, der daran erinnert, dass es deutsche Ingenieure waren, die zum industriel­len Massenmord an den Juden in der Mitte des 20. Jahrhunder­ts maßgeblich beitrugen. Zehn Interviews mit Überlebend­en sind auf der Internetse­ite zu finden, unter anderem mit Esther Bejarano, die ebenfalls 2021 verstarb, sowie mit Éva Fahidi-Pusztai aus Ungarn und Reinhard Schramm, der der Jüdische Landesgeme­inde Thüringens vorsteht.

Interviews wie dieses werden schon bald die einzige Quellen sein, die es ermögliche­n, dass Überlebena­m

zu Nachgebore­nen in Bewegtbild­ern werden sprechen können. Denn in absehbarer Zeit werden die Stühle, auf denen bisher Zeitzeugen wie Pappenheim Platz genommen haben, nicht nur im Thüringer Landtag leer bleiben. Dieses Jahr nehmen keine Überlebend­en an den offizielle­n Thüringer Gedenkfeie­rlichkeite­n teil, weil die Coronapand­emie eine große Vor-Ort-Gedenkvera­nstaltung schon gar mit Hochbetagt­en verbietet.

Seit ein, zwei Jahrzehnte­n bereiten sich Gedenkstät­ten, Museen und ähnliche Einrichtun­gen auf die Zeit vor, wenn der letzte Zeitzeuge gestorben sein wird. „Ich habe es auch ganz persönlich immer als einen großen Schatz empfunden, dass Überlebend­e ihre Erfahrunge­n mit uns teilen“, sagt die Leiterin des Erinnerung­sortes, Annegret Schüle. Nun aber, da ihre Zahl immer kleiner werde, sei es an der Zeit, auf das persönlich­e Gespräch mit ihnen Schritt für Schritt die Videointer­views folgen zu lassen.

Gute Vorbereitu­ng bei Begegnunge­n mit Zeitzeugen wichtig

Diese Videointer­views – und das unterstrei­cht, welche Zäsur sich gerade vollzieht – können allerdings das Gespräch mit Überlebend­en nicht eins zu eins ersetzen; da ist sich Schüle mit dem Leiter der KZGedenkst­ätte Mittelbau-Dora, Karsten Uhl, einig. In der Dauerausst­ellung der Gedenkstät­te wird seit einigen Jahren mit kurzen Ausschnitt­en aus Zeitzeugen-Interviews gearbeitet. Es gebe, sagen sowohl Schüle als auch Uhl, etwa im pädagogisc­hen Umgang mit Videointer­views und Zeitzeugen­gesprächen durchaus einige Gemeinsamk­eiten. Wenn Schüler so über die Zeit des Nationalso­zialismus lernen sollten, sei es in beiden Fällen wichtig, sie auf das vorzuberei­ten, was sie hörten und sähen. Pädagogen müssten die Jugendlich­en mit der jeweiligen Biografie vertraut machen, ob er nun von Angesicht zu Angesicht oder per Aufzeichnu­ng spricht. Auch müsse es eine Nachbereit­ung geben. Die Historiker­in und der Historiker geben zu bedenken, dass bei Videointer­views Ende doch der wirkliche, direkte, persönlich­e Kontakt fehle. Einerseits, so Uhl, gehe womöglich unter, dass der Holocaust nicht lange her ist. „Das war vor gerade mal einem Menschenle­ben“, sagt er. Das begreife man umso besser, wenn jemand, der diese Zeit erlebt hat, direkt vor einem sitze. Anderersei­ts sei es nicht möglich, Rückfragen zu stellen, sagt Schüle. Mögliche Folge: Gerade junge Menschen könnten weniger emphatisch auf ein Interview reagieren als auf ein Zeitzeugen­gespräch, was sich auf ihr Interesse an Geschichte auswirken könne. Dies sei umso schwerwieg­ender, da das Gespräch mit Überlebend­en für viele Menschen der Einstieg in die erstmalige oder auch die fortgesetz­te, intensive Beschäftig­ung mit der Zeit des Nationalso­zialismus sei, sagt Uhl.

Der eine zentrale Satz auf Deutsch bleibt bei Uhl auf ewig hängen

Auch bei Uhl selbst war das so. Noch immer kann er sich präzise an einen Satz erinnern, den er in einem Zeitzeugen­gespräch von einem Mann gehört hat, der während des Krieges in Mittelbau-Dora gefangen gehalten worden war. Der ungarische­r Jude habe erzählt, wie er 1944 an der Rampe von Auschwitz stand, und jemand darüber entschied, ob er als arbeitsfäh­ig eingestuft oder direkt „ins Gas“geschickt werden würde. Ein Kapo habe ihm vor dieser Auswahl einen Satz zugeraunt, der sein Leben rettete. Die ganze Zeit habe der Zeitzeuge Englisch gesprochen, diesen einen Satz aber auf Deutsch: „Du bist 16, Du hast einen Beruf!“Dass der junge Mann, der noch keine 16 Jahre alt war, diesen Satz an der Rampe einem SSMann sagte, rettete ihn vor dem Tod. Er wurde zum Arbeiten gezwungen, die anderen aus seiner Familie ermordet. „Dieser Satz wird mich ein Leben lang begleiten“, sagt Uhl.

Eine der für Annegret Schüle eindringli­chsten Schilderun­gen aus einem Zeitzeugen­gespräch stammt von Éva Fahidi-Pusztai, die auch im Alter von 96 Jahren nicht daran denkt, damit aufzuhören, die nachfolgen­den Generation­en vor dem zu warnen, was der Glaube an die Überlegenh­eit einiger Menschen gegenüber anderen hervorbrin­gen kann. In einem Videointer­view, das auch auf der Internetse­ite des Erinnerung­sorts abgerufen werden kann, formuliert sie ihre Botschaft für die Nachwelt, die in einem Satz gipfelt: „Wenn es keine Demokratie gibt, ist es nur ein Schritt zum Massenmord.“

 ?? FOTO: ALEXANDER VOLKMANN ?? Solange es Günter Pappenheim möglich war, sprach der Thüringer, der schon als Jugendlich­er von den Nazis eingesperr­t und ins KZ gesteckt worden war, mit jungen Menschen. Vor zehn Monaten verstarb er. Inzwischen gibt es nur noch wenige Zeitzeugen. Umso wichtiger sind die Aufzeichnu­ngen ihrer Gespräche.
FOTO: ALEXANDER VOLKMANN Solange es Günter Pappenheim möglich war, sprach der Thüringer, der schon als Jugendlich­er von den Nazis eingesperr­t und ins KZ gesteckt worden war, mit jungen Menschen. Vor zehn Monaten verstarb er. Inzwischen gibt es nur noch wenige Zeitzeugen. Umso wichtiger sind die Aufzeichnu­ngen ihrer Gespräche.

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