Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)
Prägende Worte über den Tod hinaus
Immer weniger Überlebende können noch Auskunft geben. Umso wichtiger sind Aufzeichnungen
Erfurt. Wenn am heutigen Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts daran erinnert wird, was die Nazis von deutschem Boden aus Menschen in ganz Europa in den 1930er und 1940er Jahren angetan haben, wird es vier Jahre her sein, dass Günter Pappenheim sich im Landtag daran erinnerte, in welchem Klima er damals lebte. Da sein Vater aus einer jüdischen Familie stammte, galten Günter und seine Geschwister damals als „Mischlinge 1. Grades“.
Im Januar 2018 hatte Pappenheim, Jahrgang 1925, geboren in Schmalkalden, erzählt, wie seine Familie schon vor der Reichspogromnacht 1938 angefeindet und entrechtet worden war. So hätten einige Kinder seinem zwei Jahre jüngeren Bruder eine Schlinge um den Hals gelegt. „Wenn ich nicht eingegriffen hätte, weiß ich nicht, ob er das überlebt hätte“, sagte Pappenheim an diesem Tag in Erfurt. Er selbst wurde später erst in ein Arbeitslager nahe Römhild verschleppt. Im Oktober 1943 kam er ins Konzentrationslager Buchenwald. Er hatte für französische Zwangsarbeiter an deren Nationalfeiertag die Marseillaise gespielt und war denunziert worden.
Topf & Söhne macht zehn Interviews mit Überlebenden zugänglich
All das hatte Pappenheim vor vier Jahren mit einer leisen, gebrechlichen Stimme erzählt. Sein Geist war noch hellwach, der Körper versagte ihm aber mehr und mehr den Dienst. Anders in einem VideoInterview aus dem Jahr 2012. Seine Stimme damals war deutlich kräftiger. Seine Augen wacher. Seine Körpersprache klar. Dieses Video überdauert seinen Tod, der jetzt bald ein Jahr zurückliegt: Am 31. März 2021 verstarb Pappenheim. Heute ist das aufgezeichnete Gespräch im Internet zu finden, auf der Seite des Erfurter Erinnerungsortes Topf & Söhne, der daran erinnert, dass es deutsche Ingenieure waren, die zum industriellen Massenmord an den Juden in der Mitte des 20. Jahrhunderts maßgeblich beitrugen. Zehn Interviews mit Überlebenden sind auf der Internetseite zu finden, unter anderem mit Esther Bejarano, die ebenfalls 2021 verstarb, sowie mit Éva Fahidi-Pusztai aus Ungarn und Reinhard Schramm, der der Jüdische Landesgemeinde Thüringens vorsteht.
Interviews wie dieses werden schon bald die einzige Quellen sein, die es ermöglichen, dass Überlebenam
zu Nachgeborenen in Bewegtbildern werden sprechen können. Denn in absehbarer Zeit werden die Stühle, auf denen bisher Zeitzeugen wie Pappenheim Platz genommen haben, nicht nur im Thüringer Landtag leer bleiben. Dieses Jahr nehmen keine Überlebenden an den offiziellen Thüringer Gedenkfeierlichkeiten teil, weil die Coronapandemie eine große Vor-Ort-Gedenkveranstaltung schon gar mit Hochbetagten verbietet.
Seit ein, zwei Jahrzehnten bereiten sich Gedenkstätten, Museen und ähnliche Einrichtungen auf die Zeit vor, wenn der letzte Zeitzeuge gestorben sein wird. „Ich habe es auch ganz persönlich immer als einen großen Schatz empfunden, dass Überlebende ihre Erfahrungen mit uns teilen“, sagt die Leiterin des Erinnerungsortes, Annegret Schüle. Nun aber, da ihre Zahl immer kleiner werde, sei es an der Zeit, auf das persönliche Gespräch mit ihnen Schritt für Schritt die Videointerviews folgen zu lassen.
Gute Vorbereitung bei Begegnungen mit Zeitzeugen wichtig
Diese Videointerviews – und das unterstreicht, welche Zäsur sich gerade vollzieht – können allerdings das Gespräch mit Überlebenden nicht eins zu eins ersetzen; da ist sich Schüle mit dem Leiter der KZGedenkstätte Mittelbau-Dora, Karsten Uhl, einig. In der Dauerausstellung der Gedenkstätte wird seit einigen Jahren mit kurzen Ausschnitten aus Zeitzeugen-Interviews gearbeitet. Es gebe, sagen sowohl Schüle als auch Uhl, etwa im pädagogischen Umgang mit Videointerviews und Zeitzeugengesprächen durchaus einige Gemeinsamkeiten. Wenn Schüler so über die Zeit des Nationalsozialismus lernen sollten, sei es in beiden Fällen wichtig, sie auf das vorzubereiten, was sie hörten und sähen. Pädagogen müssten die Jugendlichen mit der jeweiligen Biografie vertraut machen, ob er nun von Angesicht zu Angesicht oder per Aufzeichnung spricht. Auch müsse es eine Nachbereitung geben. Die Historikerin und der Historiker geben zu bedenken, dass bei Videointerviews Ende doch der wirkliche, direkte, persönliche Kontakt fehle. Einerseits, so Uhl, gehe womöglich unter, dass der Holocaust nicht lange her ist. „Das war vor gerade mal einem Menschenleben“, sagt er. Das begreife man umso besser, wenn jemand, der diese Zeit erlebt hat, direkt vor einem sitze. Andererseits sei es nicht möglich, Rückfragen zu stellen, sagt Schüle. Mögliche Folge: Gerade junge Menschen könnten weniger emphatisch auf ein Interview reagieren als auf ein Zeitzeugengespräch, was sich auf ihr Interesse an Geschichte auswirken könne. Dies sei umso schwerwiegender, da das Gespräch mit Überlebenden für viele Menschen der Einstieg in die erstmalige oder auch die fortgesetzte, intensive Beschäftigung mit der Zeit des Nationalsozialismus sei, sagt Uhl.
Der eine zentrale Satz auf Deutsch bleibt bei Uhl auf ewig hängen
Auch bei Uhl selbst war das so. Noch immer kann er sich präzise an einen Satz erinnern, den er in einem Zeitzeugengespräch von einem Mann gehört hat, der während des Krieges in Mittelbau-Dora gefangen gehalten worden war. Der ungarischer Jude habe erzählt, wie er 1944 an der Rampe von Auschwitz stand, und jemand darüber entschied, ob er als arbeitsfähig eingestuft oder direkt „ins Gas“geschickt werden würde. Ein Kapo habe ihm vor dieser Auswahl einen Satz zugeraunt, der sein Leben rettete. Die ganze Zeit habe der Zeitzeuge Englisch gesprochen, diesen einen Satz aber auf Deutsch: „Du bist 16, Du hast einen Beruf!“Dass der junge Mann, der noch keine 16 Jahre alt war, diesen Satz an der Rampe einem SSMann sagte, rettete ihn vor dem Tod. Er wurde zum Arbeiten gezwungen, die anderen aus seiner Familie ermordet. „Dieser Satz wird mich ein Leben lang begleiten“, sagt Uhl.
Eine der für Annegret Schüle eindringlichsten Schilderungen aus einem Zeitzeugengespräch stammt von Éva Fahidi-Pusztai, die auch im Alter von 96 Jahren nicht daran denkt, damit aufzuhören, die nachfolgenden Generationen vor dem zu warnen, was der Glaube an die Überlegenheit einiger Menschen gegenüber anderen hervorbringen kann. In einem Videointerview, das auch auf der Internetseite des Erinnerungsorts abgerufen werden kann, formuliert sie ihre Botschaft für die Nachwelt, die in einem Satz gipfelt: „Wenn es keine Demokratie gibt, ist es nur ein Schritt zum Massenmord.“