Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)
„Das Geld kommt bei den Kindern nicht an“
In Thüringen läuft das Aktionsprogramm zum Aufholen von Corona-Lernlücken bundesweit am schlechtesten
Leider ist nicht die Kompetenz des Anbieters entscheidend, sondern dessen Gesellschaftsform. Antje Hübner, Referentin der Jugend will… gGmbH Jena
Christiane Neuwirth, ehemalige Schulleiterin des Jenaer Otto-Schott-Gymnasiums, ist zwar seit knapp einem Jahr im Ruhestand, doch das Thema Schule lässt sie nicht los. Vor allem die schleppende Umsetzung des Aktionsprogramms zum Aufholen von Lernlücken, die die Pandemie infolge von Schulschließungen und Quarantänen hinterlassen hat, ärgert sie.
Anstatt es Schülern, Eltern und Lehrern so leicht wie möglich zu machen, versäumten Unterrichtsstoff nachzuarbeiten, ist aus ihrer Sicht ein Bürokratiemonster entstanden, das es erheblich erschwert, die vom Bund dafür bereitgestellten Mittel zu nutzen. Dass Thüringen – wie jüngst von der CDU-Landtagsfraktion gemeldet – derzeit Schlusslicht beim Abrufen dieser Mittel ist, verwundert die Pädagogin nicht: „Es macht mich sehr betroffen, wenn ich diese Umstände bedenke“, sagt Christiane Neuwirth.
Die langjährige Schulleiterin macht ihren Ärger an einem Beispiel aus Jena fest: Dort hätten zwei erfahrene Bildungsunternehmen, die Jugend will… gGmbH und die InDistanz GmbH, sieben konkrete Projekte konzipiert, die mehrere Thüringer Schulen am liebsten sofort umsetzen würden. „Denn sie docken genau da an, wo Bedarf besteht.“Die beiden Unternehmen seien vom Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien (Thillm) im Juni 2021 eigens angefragt worden, ob sie solche Konzepte erstellen könnten. Nachdem das Thillm diese als fachgerecht, praktikabel und förderfähig eingestuft habe, fanden Anfang April zwei Fortbildungen statt, bei denen an die Schulleiter eine 57-seitige „Handreichung“verteilt worden sei. Und in dieser stehe nun, dass für das Programm grundsätzlich keine Verträge mit gGmbH, GmbH, GbR und dergleichen abgeschlossen werden dürften.
Land fordert einen dritten Vertragspartner
„Das heißt, nicht die Kompetenz des Anbieters ist entscheidend, sondern seine Gesellschaftsform“, sagt Antje Hübner, Referentin der Jugend will… gGmbH. Dabei hätten mehrere Schulen nur darauf gewartet, endlich mit den Jenaer Partnern loszulegen: „Ein Schulleiter aus Greußen war am Telefon schier verzweifelt“, sagt Antje Hübner. „Da liege ihm nun ein Top-Angebot vor, und er dürfe es nicht nutzen.“
Ganz zutreffend ist das allerdings nicht. Denn der Schulleiter könnte das Angebot durchaus wahrnehmen. Dazu müsste er aber einen der sechs Kooperationspartner mit ins Boot holen, mit denen das Thüringer Bildungsministerium eine Vereinbarung zur Verwaltung abgeschlossen hat. Weitere Vertragspartner dürfen nur Vereine oder Privatpersonen sein. Das klingt nicht nur kompliziert, das ist es auch: „Es muss jeweils drei Vertragsparteien geben“, erklärt Antje Hübner: „Die Schule, den Kooperationspartner und einen Anbieter, der gesellschaftsrechtlich passt. Das allein bedeutet so unfassbar viel Arbeit und Absprachen, dass die Schulen mitunter dankend ablehnen.“
Aus Sicht von Hübner und Neuwirth völlig unverständlich: Die Schulleiter oder die damit beauftragten Lehrer hätten keine Zeit, nebenher noch Sachbearbeiter zu sein und „tausend Gespräche zu führen und zig Formulare auszufüllen“. Dabei gehe es doch darum, Lerninhalte nachzuholen und anhand von Lernstandsanalysen genau dort tätig zu werden, wo Bedarf bei den Schülern besteht.
„Dafür braucht es genau ein Gespräch – und zwar das zwischen Lehrer oder Schulleiter einer- und der Fachkraft des Anbieters andererseits“, findet Antje Hübner. „In Thüringen kommt das Geld einfach nicht bei den Kindern an“, ärgert sich deshalb Ex-Schulleiterin Christiane Neuwirth. „Ich bin mir aber sicher, dass es woanders, zum Beispiel in Sachsen, Brandenburg oder Hessen, durchaus ankommt.“
Sie könne schlicht nicht nachvollziehen, weshalb Institutionen, „die das Werkzeug und die Kompetenz haben“, bewusst außen vor gelassen würden. Zumal in der Verwaltungsvorschrift vom Januar vom Ausschluss von GbR und ähnlichen Gesellschaftsformen noch nichts zu lesen gewesen sei. Anfang Mai haben sich die beiden Jenaer Einrichtungen mit der Bitte um Klärung an Bildungsminister Helmut Holter (Linke) gewandt. Bisher gab es darauf keine Reaktion.
Nicht einmal jede fünfte Schule meldet Bedarf an
Zweifel daran, ob das Geld – für Thüringen sind es rund 32 Millionen Euro – an der richtigen Stelle ankommt, nährt auch die für das Aktionsprogramm erstellte Homepage staerken-unterstuetzen-ab
holen.thueringen.de: Am Montag waren dort 172 Gesuche von Schulen gelistet. Gemessen an der Zahl von etwa 1000 Thüringer Schulen klingt das nicht danach, als sei die Mehrheit mit Elan dabei, das Aufholprogramm zu nutzen. Wie die geringe Zahl andererseits auch kaum belegen dürfte, dass die Schulen die Rückstände aus eigener Kraft in den Griff kriegen.
Einen Überblick darüber, wie die Thüringer Schulen das Aktionsprogramm in Anspruch nehmen, hat jedoch auch das Thüringer Bildungsministerium nicht: Auf Anfrage teilt es mit, dass es das noch nicht einschätzen könne, weil die „Umsetzung des Programms im Rahmen der 2. Phase“erst Anfang Februar gestartet worden sei. Auch zur Zahl der bisher von den Schulen verteilten Lern-Schecks an Eltern, bei deren Kindern Förderbedarf besteht, kann das Ministerium noch nichts sagen. Diese Zahl werde erst zum Abschluss des Landesaktionsprogramms feststehen.
Wie aus dem Zwischenbericht der Kultusministerkonferenz zum 31. März 2022 hervorgeht, hat Thüringen von den 32 Millionen Euro bis Ende 2021 lediglich rund eine Million Euro eingesetzt. Damit liegt der Freistaat im Ländervergleich auf dem letzten Platz. Dass Helmut Holter optimistisch ist, das Geld noch voll auszuschöpfen, kann Christiane Neuwirth nur mit einem Satz kommentieren: „Der Minister weiß nicht, was an der Basis los ist.“