Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Kleine Geschichte einer Freundschaft
„Mit Siebzehn“: André Téchiné erzählt eine wundervolle Geschichte zweier jugendlicher Außenseiter, die einander näher kommen
JENA/ERFURT. Alles, was großes Kino braucht, hat André Téchiné, der Altmeister der französischen Regiekunst, aufzubieten: „Mit Siebzehn“ist ein Film über die Freundschaft und die Liebe, über Tod und Geburt, den Verlust und den Schmerz. Über das Anderssein und über die verwirrenden Gefühle in der Adoleszenz – ja, ausgerechnet jetzt, mit 74 Jahren, stellt Téchiné eine Coming-of-agegeschichte vor. Sie feiert heute in Jena und Erfurt ihren Bundesstart.
Doch jenseits ausgetretener Pfade ist „Mit Siebzehn“sehr authentisch, poetisch und ungekünstelt. Der Film kommt ohne etablierte Stars aus; es sei denn, man betrachtet die Landschaft als solchen. Die raue Gebirgswelt der Pyrenäen avanciert bei Téchiné zu einer Metapher des Lebens. Tiefschnee hält die Menschen fest im Griff, die Ärztin Marianne (Sandrine Kimberlaine) wird aus der Kleinstadt auf den abgelegenen Berghof der Charpouls gerufen. Dort lernt sie Thomas (Corotin Fila), den Ziehsohn der Familie, kennen.
Tom, ein Migrantenjunge, legt Tag für Tag die eineinhalb Stunden Weg zur Schule mit dem Bus und zu Fuß zurück. Der Einzelgänger hat keine Freunde, keine Mädchen und verdammt schlechte Noten. Er liebt die Einsamkeit, und davon gibt es zuhause reichlich. Unten im Tal besucht er dieselbe Schulklasse wie Damien (Kacey Mottet Klein), Mariannes Sohn. Die beiden könnten verschiedener nicht sein. Damien ist ein As in Mathematik, er liebt Rimbaud und lebt in behüteten Verhältnissen.
Sie kämpfen und sie kiffen miteinander
Fast täglich geraten der verschlossene, pragmatische Tom, der skrupellos ein Huhn mit einem flinken Handgriff töten kann, und der sensible Damien aneinander: im Unterricht, auf dem Schulhof, beim Basketball – der Schuldirektor interveniert und droht mit Verweis. Marianne nimmt sich des fremden Jungen an und ihn in der Familie auf, als dessen Mutter ins Hospital muss. Die erzwungene Annäherung bringt die beiden Jungs einander näher, sie kämpfen und sie kiffen miteinander.
So etabliert Damien in dieser Welt auch scheint, ist er doch der eigentliche
Außenseiter. Mit siebzehn, in der Zeit erwachender sexueller Gefühle, fühlt er sich eher zu Männern hingezogen. Tom fährt ihn heimlich zu einem Rendezvous – es bleibt ein gemeinsames Geheimnis. Erst als Damien eine zärtliche Annäherung auf
dem Schulklo versucht und Tom ihn mit einem rüden Kopfstoß abblitzen lässt, scheint ihre begonnene Freundschaft zu brechen.
Doch es kommt anders. Fatale Ereignisse brechen über Damiens Familie herein, Tom bleibt ihnen verbunden. Bis sich das Leben auf verschlungenen Pfaden einen völlig unerwarteten Ausweg sucht. Téchiné, der gemeinsam mit Céline Sciamma auch fürs Drehbuch verantwortlich zeichnet, erzählt ganz lapidar mit einfachen Dialogen und – vor allem in traumhaften Bildern. Aus der Hand gefilmt (Julien Hirsch), quasidokumentaristisch, macht er den Zuschauer zu Zeugen einer allmählichen Entwicklung.
Die Geschichten Toms und Damiens werden in Parallelmontagen erzählt, bis sie sich ineinander verweben. Stimmungen – der kalte Schein der Wintersonne, das warme Kunstlicht in menschlichen Behausungen – spiegelt mehr das Ambiente der Berge wider, als dass die Akteure es zu artikulieren vermöchten. Alles wirkt ganz natürlich, und so erzeugt „Mit Siebzehn“umwerfend starke, empathische Gefühle – wie im richtigen Leben. Es ist ja nur die kleine Geschichte einer Freundschaft, aber sie ist wunderbar subtil erzählt – und deshalb nichts weniger als wahrhaftige, große Filmkunst.
● Ab heute im Kino am Markt, Jena, und im Kinoklub am Hirschlachufer, Erfurt