Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Das Weimarer Freiheits-oratorium
Beethovens „Fidelio“glückt musikalisch in rauschhafter Bravourleistung – Hasko Webers kluges Opernregiedebüt
WEIMAR. Schon zur Ouvertüre hebt sich der Vorhang, und auf die großen, weißen Lettern F-R-E-I-H-E-I-T, die vom Schnürboden in die kahlschwarze Arena herabbaumeln, wird ein Video-potpourri mit aufgebrachten Menschenmengen projiziert. Tumulte im Gezi-park, im Us-wahlkampf, in Südkorea, auf dem Maidan von Kiew – so beliebig die Auswahl, so universell und akut der von Polizeiund Militärgewalt niedergeknüppelte Drang. Ein güldener Engel tritt auf, Don Fernando, und verneigt sich. Sein Geist möge walten: Das DNT spielt Beethovens Freiheitsoper, „Fidelio“.
Ein denkwürdiger, in seiner musikalischen Qualität geradezu sensationeller Abend nimmt seinen Lauf. So bedächtig, beinahe schleppend und doch konzis konturiert lässt Gastdirigent Niklas Willén dieses Mikro-drama zum Auftakt musizieren, als gelte es hörbar zu machen, wie eine unwiderstehliche Spannkraft sich aufbaut. Die Noblesse der solistischen Einsätze, zumal der Hörner, und das wunderbar austarierte, kompakte, zugleich transparente Klangbild unterliegen einem Gestaltungswillen, der von Könnerschaft und Augenmaß zeugt. Längst scheint es, als habe für die Staatskapelle Weimar eine neue Ära begonnen.
Krokhina und Cleveman bilden ein ideales Ehepaar
Der Beethovensche Heroismus erfordert ein Höchstmaß an Selbstdisziplin und Konzentration. Freiheit bedeutet in dieser Musik, sich mit allem Feuereifer Mal für Mal neu auf ihre Risiken einzulassen, ohne dass Angestrengtheit je dominierte. Dramatischer Furor muss ins Gemeinsame kanalisiert werden, der Mut zu erhebender Schönheit verlangt nach individuellem Entfaltungsspielraum. Doch ist Erfolg keine Frage des Überschwangs, sondern der starken Nerven. In diesem Sinne glückt Willén und „seinen“Musikern etwas Klassisches – und eine Demonstration ihrer Klasse.
Auf der Bühne setzt dieser Geist, was Haltung und Kompetenz angeht, sich wie selbstverständlich fort. Wie hat Larissa Krokhina, die die Titelpartie interpretiert, doch an Format zugelegt! Wie druckvoll empathisch sie selbst heikelsten Wendungen charakteristische Valeurs verleiht, wie demutsvoll ihr mollbitteres Sehren, als ihr Rocco eröffnet, sie solle des Gatten Grab schaufeln helfen, und wie zupackend, klar und bestimmt – ja „mannhaft“– sie artikuliert, zumal im Status der fideliohaften Verstellung.
Mit Lars Cleveman bildet sie ein ideales Bühnenpaar. Der Kerl ist zwar nicht groß von Statur, doch – wenn er mit seinem Schicksal hadert – ein Riese an Trotz und stimmlicher Durchdringungskraft. Unter den Nebenrollen – Christoph Stegemann (Rocco) mit leichtem Hang zu Zögerlichkeit, aber ironisch funkelnder Gold-arie, die jugendlich kapriziöse Caterina Maier als Marzelline und der stentorhaft präsente Uwe Schenker-primus als Don Fernando – überragt Alik Abdukayumow, der als Pizarro mit abgründiger Boshaftigkeit in allen Finessen brilliert.
Davon – von dieser wohlverstandenen Freiheit zur (Team-)leistungsbereitschaft – lebt diese Produktion, und der Regisseur und Hausherr Hasko Weber besitzt das Selbstbewusstsein und die Klugheit, sich ganz in ihren Dienst zu stellen. Eigentlich ist seine Arbeit, als Debütant in der Oper, (fast) eine Nicht-regie; oratorienhaft erzählt er die Handlung in Bildern – was der Aussage wiederum exemplarische Gültigkeit schenkt.
Im finsteren Kerker dieses zu äußerster Strenge reduzierten Bühnenbilds (Thilo Reuther) – im Grunde ein klaffendes Nichts – genügen wenige Elemente, schroffe Wände zumeist, um symbolhaften Raum zu begrenzen. Die Figuren bleiben vorwiegend statisch und sind auf ihre Funktion fokussiert, etwa die Formation des Gefangenenchors in tadellos gebügelten, orangeroten Guantanamouniformen.
Nur zwei kleine Späßchen gönnt Weber sich, wenn Jaquino (Jörn Eichler), als er vergeblich um Marzelline anhält, ein Missgeschick durch die Blume passiert und wenn seine Angebetete zum Schluss sinnwidrig auf ihrer Liebe zum (inzwischen decouvrierten) Fidelio beharrt. Ansonsten darf man sich wundern, dass Florestan die verkleidete Leonore, seine Gattin, obschon die Rettende ihm längst ganz nah steht, erst so spät erkennt. Und dass die beiden – „O namenlose Freude!“– einander so äußerst entfernt bleiben, als sie herzinnigst stimmumschlungen ihre großartige Liebe feiern (was nur perfekt einstudierten Eheleuten gelingt).
Am Ende mischen sich wieder Demo-videos in den allgemeinen Jubel ein, so schließt sich der Kreis. Dass dieser Weimarer „Fidelio“so mustergültig glückt, liegt nicht zuletzt daran, dass Willén den singspielhaften Gestus des ersten Akts ignoriert – zu Gunsten schier atemberaubenden Stringenz. Martin Hoff, der eigentlich hätte dirigieren sollen, mag sich, von wo er auch immer hat zuhören können, in seltener Zufriedenheit darauf ein Pfeifchen angesteckt habend. À la bonne heure! Was für ein Abend!