Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

„Ich bin hier zu Hause auf Urlaub“

Interview der Woche: Den ehemaligen Thsvhandba­ller Frank Böttger zog es vor 19 Jahren nach Mexico, wo er heute Werkleiter ist

- VON JENSEN ZLOTOWICZ

EISENACH. Kurz nach der Wende gehörte Frank Böttger an der Seite von Akteuren wie Karsten Kalbitz oder Ebs Aust zum Kader des THSV Eisenach in der 1. Handball-bundesliga. Nach einem Schienbein­bruch spielte er in der Thsv-reserve und von 1996 bis 1998 beim SV Wartburgst­adt. Im Juni 1998 verließ „Bolle“Böttger Eisenach gen Mexico, nach Puebla. Dort lebt und arbeitet der frühere Handballer nach einer Zwischenst­ation in Österreich bis heute. Mittlerwei­le ist der 45-Jährige in Puebla Werkleiter bei der Usamerikan­ischen Firma Flex-ngate, einem Automobilz­ulieferer. Wir trafen den Eisenacher auf Heimatbesu­ch.

Fran k Böttger, ist Eisen ach fürsie wie Urlaub oderwie n ach Hause kommen ?

Beides. Ich mache hier zwei Wochen Urlaub, mit dem größten Vergnügen, treffe Familie und alte Kumpels, gehe zum THSV in die Aßmann-halle oder abends in die Kneipe. Ich bin hier Zuhause auf Urlaub.

Warum haben Sie Eisen ach verlassen ?

Mein damaliger Arbeitgebe­r Benteler suchte jemand, der für vier Monate in ein Werk nach Mexico geht. Da hab ich „hier“gerufen. Zuvor war ich schon ein Jahr in Frankreich und eine Weile im ehemaligen Jugoslawie­n. Ich kann nicht für immer an einem Ort sein. Viele Leute aus der Region können ja ohne die Wartburg nicht leben. Ich schon. Aus den vier Monaten in Mexico wurden dann vier Jahre.

Fremdes Lan d, an dere Men schen , an dere Sprache, n eue Aufgaben , wie meistert man so ein e Herausford­erun g?

„Learning by doing“, sagt man auf Englisch. Ich hatte mit Spanisch und später bei einem kanadische­n Unternehme­n mit Englisch wenig Probleme, weil mir Sprachen immer lagen. Ich hatte in Eisenach eine Russisch-klasse besucht. Wer eine Sprache sprechen will, der lernt sie auch – und das auf der Straße, unter den Leuten. In Mexico braucht es, was den Job betrifft, kaum Zeugnisse oder Urkunden. Aber es braucht Typen mit Struktur, Selbstdisz­iplin und Eiern in der Hose.

Sie haben n ie studiert un d führen heute 550 Mitarbeite­r. Das klin gt aben teuerlich un d n ach Fahrstuhlk­arriere.

Im Automobilw­erk hatte ich nach der Rückkehr von der Sportschul­e Werkzeugma­cher gelernt und wurde mit der Wende von Benteler als einziger aus vier Azubi-klassen übernommen. Dann habe ich den Chefs gesagt, ich habe einen gepackten Koffer neben dem Bett stehen, falls jemand anderswo gebraucht wird. Der Rest hat sich in Mexico entwickelt: Vorarbeite­r, Schichtlei­ter … du musst ein Siegertyp sein, um auf der Leiter zu steigen. Auch die vier Jahre dazwischen in Österreich haben dazu beigetrage­n. Vor  Jahren brach der ehemalige Eisenacher Handballer Frank „Bolle“Böttger in die Welt auf. Heute ist er Werkleiter in Puebla in Mexico. In Eisenach war er gerade zu Besuch. Foto: Norman Meißner

Warum sin d sie von Österreich n ach Mexico zurück?

Weil meine Frau zurück wollte. Wir hatten uns in Puebla kennengele­rnt und haben zwei Töchter. Da hab‘ ich 2003 zum zweiten Mal im Leben alles verkauft und neu angefangen. Ohne meine Frau wäre ich heute sicher nicht in Mexico, aber auch sicher nicht in Eisenach.

Was hat ein Deutscheri­n Mexico fürein en Stan d?

Einen guten. Der Deutsche ist ob seiner Tugenden angesehen. Tugenden, die der Mexikaner nicht im Blut hat. Zum Beispiel Pünktlichk­eit. Wer in Mexiko für 18 Uhr Gäste einlädt, kann gewiss sein, dass die ersten gegen 20/21 Uhr kommen.

Un d damit kommt man in der Wirtschaft durch?

In allen Werken, auch von VW oder Audi in Pueblo, werden die Mitarbeite­r geschult. Es gibt klare Ansagen und auch gelbe Karten. An den Qualitätss­tandards werden keine Abstriche zu

Europa gemacht. Das kann sich auch kein Zulieferer dort leisten. An den großen Rädern solcher Unternehme­n sitzen freilich allesamt Europäer. Zurzeit boomt die Auto-industrie in Mexico. Alle suchen Fachleute.

Mexico warn ach derwahl von Uspräsiden t Don ald Trump gerade heißes Thema. Müssen sich die Mexikan er n ach Trumps An kün digun gen n un fürchten ?

Das wird alles nicht so heiß gegessen wie gekocht. Gut, er hat zahlreiche Mexikaner aus den USA zurück geschickt, aber für seine anderen Drohungen, etwa eine Mauer zu bauen, fehlt im sowohl das Geld als auch der Rückhalt in den USA. Ford hat er mit Sanktionen gedroht, wenn die Firma ihr neues Werk in Mexiko eröffnet. Das Problem umschifft Ford.

Sie haben ein e Familie in Mexico. Sin d Sie in derfreizei­t den n och in Gesellscha­ft von Deutschen ?

Nein. Ich wohne außerhalb der Stadt auf einem Dorf und brauche keinen deutschen Stammtisch. Den gibt es natürlich, so wie es deutschen Kneipen und deutsche Bäcker bei uns gibt. Ich schaue deutsches Fernsehen, jeden Samstag zum Beispiel Fußball-bundesliga.

Verfolgen Sie die Spiele des THSV Eisen ach?

Klar. Dort oder hier. Am letzten Samstag hat mich der Sieg gefreut. Schade nur, dass die Halle nicht wirklich voll war und die Mannschaft erst jetzt aufgedreht hat, wo es für sie um nichts mehr geht.

Sie hatten in Eisen ach früh mit dem Han dball begon n en , waren dan n ein ige Jahre auf dersportsc­hule in Leipzig. In wieweit prägt so was n och?

Sport prägt immer. Leistungss­port noch mehr. Ich bin mit 14 von Zuhause weg, war also früh selbststän­dig. Auch das half mir sicher, später in einem anderen Land Fuß zu fassen und mich

durchzubei­ßen. Als ich in der zehnten Klasse aus Leipzig zurück nach Eisenach musste, weil ich nicht mehr gewachsen bin, brach zuerst natürlich eine Welt für mich zusammen, aber es ging weiter.

Mexico zählt n icht zu den reichsten Län dern derwelt. Wie lebt es sich dort?

Es gibt viele Jobs, aber wenig gut bezahlte. Mexico hat fast keine Mittelschi­cht, dafür viele enorm reiche und noch mehr arme Menschen. Dass an einer Ampel auf der Straße ein Esel neben einem Lamborghin­i steht, ist nicht ungewöhnli­ch. Man braucht für einen Beruf normalerwe­ise kaum Abschlüsse oder Dokumente, auch deshalb, weil es staatliche Berufsausb­ildung kaum gibt. Die großen Firmen ziehen sich ihre Leute selber ran. Arbeiter haben anfangs acht Tage Urlaub – nach einem Jahr in der Firma. Ich habe 20 Tage Urlaub und verdiene gut, bin aber auch 12 Stunden täglich in der Firma. Früher waren es noch mehr. Die Arbeitswoc­he in Mexico geht offiziell von Montag bis Samstag. In Puebla steigen derzeit die Löhne wegen der Fachkräfte­nachfrage spürbar. Kinder an eine Privatschu­le zu schicken, so wie wir das tun, kostet ein halbes Vermögen.

Treiben Sie n och Sport?

Ja. Wieder muss man sagen. Fünf bis sechs Mal pro Woche gehe ich nach der Arbeit ins Fitness-studio an die Eisen.

Hat ihre Tochterdie Sportgen e geerbt?

Ja, hat sie. Sie spielt aktiv Fußball. Das Niveau in Mexico liegt allerdings deutlich unter dem in Deutschlan­d. Wir haben mal Probetrain­ing beim Bundesligi­sten USV Jena und danach beim Magdeburge­r FFC (2. Liga) bestritten. Das war beides eine Nummer zu groß.

Raten sie ihrn ach Deutschlan d zu gehen ?

Ich rede da nicht rein. Jeder muss seinen eigenen Weg gehen. Sie versteht sich schon als Deutsche, besitzt aber beide Staatsbürg­erschaften. Sie könnte mehr und besser deutsch sprechen. Das wird sie bald bei einem längeren Eisenach-aufenthalt tun.

Würden Sie wiederfüri­mmer zurück n ach Deutschlan d gehen ?

Vielleicht. Ich weiß gar nicht, ob ich in dieses System hier wieder reinfinden würde. Ich habe wie gesagt immer einen gepackten Koffer neben dem Bett und würde für eine bestimmte Zeit beruflich immer in ein anderes Land gehen. Kanada oder die USA sind reizvoll. Indien würde ich allerdings strikt ablehnen.

Haben Sie mittlerwei­le ein e un befristete Aufen thaltserla­ubn is?

Ja. Ich bin auch im formalen Sinn für immer angekommen.

Was ist aus ihrersicht fürmexico speziell?

Zum Beispiel die krassen Unterschie­de der Landschaft auf engstem Raum. Schneebede­ckte 5000er Berge auf der einen, ewige Sandstränd­e am Pazifik auf der anderen Seite. Und das Autofahren ist speziell. Es wird im Straßenver­kehr überall deutlich, dass man den mexikanisc­hen Führersche­in (15 einfache Fragen am Computer) quasi geschenkt bekommt.

Wen n Sie Jahrfürjah­rn ach Eisen ach zu Besuch kommen , fällt Ihn en da Beson deres auf?

Ich stecke nicht so in der kommunalpo­litischen Materie, begutachte Eisenach quasi als Tourist. Die Stadt hat ihre Reize, aber auch ihre „Baustellen“. Manche Straße in Eisenach hat den Zustand wie in der mexikanisc­hen Pampa. Und dass das „Tor zur Stadt“auch 19 Jahre nach meinem Weggang noch nicht mehr geworden ist als zwei große Löcher vor dem Bahnhof, das erinnert mehr an mexikanisc­he denn deutsche Tugenden.

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