Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Grenzschließung vor Gericht
Soldaten und Polizisten haben Tausende auf der Balkanroute gestoppt – eine Familie aus Syrien klagt jetzt in Straßburg gegen die Politik der Zäune
IDOMENI. Sie tragen Waffen. Sie haben den Zaun mit Stacheldraht gesichert und das Tor verschlossen. Sie zerstören Hoffnungen. Hier im Schlamm von Idomeni, wo viele von ihnen seit Wochen ausharren. So sehen die mehr als 1000 Syrer, Iraker, Afghanen und anderen Flüchtlinge die mazedonischen Soldaten und Polizisten, als sie am Vormittag des 14. März 2016 losziehen.
Unter ihnen ist auch die Familie Asaf, Vater Bilal und Mutter Nara, Sohn Ahmed und Tochter Rama. Sie brechen auf von ihren Zelten auf Wiesen und zwischen Bahngleisen, laufen sechs Kilometer über Asphalt, Sand und Schlamm bis zum Ende des Grenzzauns, wo sie auf den reißenden Fluss treffen. Die Ersten waten durchs kalte Wasser, um endlich in Mazedonien anzukommen. Alle wollen weiter nach Westen, vor allem nach Deutschland.
Die mazedonischen Polizisten auf der anderen Seite des Zauns sehen es anders: Es sind viele. Sie sehen verzweifelt aus, durchnässt und müde, auch wütend, manche aggressiv, möglicherweise angestachelt durch freiwillige Helfer aus Deutschland oder England. Sie wollen durch, illegal. Und die griechischen Polizisten ließen sie einfach laufen. Der Befehl von oben lautet: Stopp!
Die Soldaten und Polizisten halten die Menschen fest. Und bringen sie zurück an die griechische Grenze. Ohne Identifizierung, Anhörung, Asylverfahren
oder Strafverfahren wegen illegalen Grenzübertritts. Offiziell hatte es diesen Vorfall nie gegeben. An diesem Tag im März 2016 prallt an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien all das aufeinander, was die große Fluchtkrise ausmacht: Verzweiflung der Syrer und Afghanen auf der einen Seite. Auf der anderen Seite das Chaos an den Grenzen Europas – und die Versuche der Staaten, die Kontrolle
zur Not mit Stacheldraht und Gewehren zurückzugewinnen. In Idomeni trifft der Wunsch nach Weiterreise der Tausenden auf das Recht eines Staates, den Zugang zu seinem Gebiet zu versperren. Es stößt hier aber auch das Grundrecht auf Asylverfahren auf Grenzbeamte, die längst überfordert sind mit der Registrierung.
Anwälte sagen, dass die Mazedonier an diesem Märztag bei Idomeni eine der größten illegalen Massenabschiebungen seit dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt haben. Jetzt klagen acht Flüchtlinge vor dem Europäischen Menschengerichtshof (EMGR) in Straßburg dagegen.
Auch die Asafs sind Kläger.
Diese Redaktion konnte mit der Familie sprechen, die mittlerweile in Süddeutschland lebt. Auch die gerichtliche Stellungnahme Mazedoniens ist bekannt. Bis Ende des Jahres will das Gericht entscheiden: Hat Mazedonien internationales Recht verletzt? Das Urteil könnte Auswirkungen haben auf die Politik vieler Staaten, die Stacheldrahtzäune und Transitlager errichten: Ungarn, Kroatien, Bulgarien. Europas Grenzpolitik steht vor Gericht. Für die Anwälte soll der Prozess ein Signal sein. „Wer Fluchtrouten schließt und dafür seine Grenzen unter Einsatz von Soldaten
hermetisch abriegelt, nimmt absehbare Menschenrechtsverletzungen in Kauf“, sagt Carsten Gericke von der Organisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), der die Familie anwaltlich vor Gericht vertritt.
Mazedonien hat die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet. Und auch die Europäische Menschenrechtskonvention, dort heißt es im vierten Zusatzprotokoll: „Kollektivausweisungen ausländischer Personen sind nicht zulässig.“Festgeschrieben ist auch, dass jeder Schutzsuchende das Recht auf juristische Mittel hat, wenn ihm die Abschiebung droht.
Wer den Ausnahmezustand von Idomeni verstehen will, muss zurückschauen auf diese Monate, in denen die Krise aus dem Ruder lief. Griechenland, eigentlich für die Außengrenze der EU verantwortlich, lässt die Menschen ziehen. Und so macht es jeder andere Staat auch. Schnell ist von der „Balkanroute“die Rede, auch bei den Migranten und Flüchtlingen – einem Weg ohne Kontrollen, bis nach Deutschland.
Anfang März machen die Balkanstaaten die Grenzen dicht. Hilfsorganisationen sprechen von „zahlreichen Atemwegserkrankungen und einem akuten Ausbruch der Magen-darmgrippe“in Idomeni. Das Lager ist Symbol des großen Kontrollverlustes in der EU – des großen Scheiterns einer globalen Flüchtlingspolitik. Familie Asaf war mittendrin.
Am Morgen des 14. März ziehen mehrere Gruppen los, Familie Asaf erreicht am Nachmittag Mazedonien. Plötzlich stoßen sie auf 500 Geflüchtete. Sie sind umstellt von Soldaten.
Diese fordern sie auf umzudrehen. Die mazedonische Regierung gibt an, dass sie keine Kenntnis habe über Drohungen oder Gewalt ihrer Soldaten an diesem Märztag. Die Grenzbeamten hätten eine illegale Weiterreise unterbunden. Man habe den Menschen jedoch angeboten, in Mazedonien Asyl zu beantragen. Dies hätten die Flüchtlinge abgelehnt. Aussage steht gegen Aussage. Der Fall zeigt vor allem, wie undurchsichtig die Situation an den neuen Grenzzäunen in Europa geworden ist.
Menschenrecht trifft auf Recht eines Staates