Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Grenzschli­eßung vor Gericht

Soldaten und Polizisten haben Tausende auf der Balkanrout­e gestoppt – eine Familie aus Syrien klagt jetzt in Straßburg gegen die Politik der Zäune

- VON CHRISTIAN UNGER

IDOMENI. Sie tragen Waffen. Sie haben den Zaun mit Stacheldra­ht gesichert und das Tor verschloss­en. Sie zerstören Hoffnungen. Hier im Schlamm von Idomeni, wo viele von ihnen seit Wochen ausharren. So sehen die mehr als 1000 Syrer, Iraker, Afghanen und anderen Flüchtling­e die mazedonisc­hen Soldaten und Polizisten, als sie am Vormittag des 14. März 2016 losziehen.

Unter ihnen ist auch die Familie Asaf, Vater Bilal und Mutter Nara, Sohn Ahmed und Tochter Rama. Sie brechen auf von ihren Zelten auf Wiesen und zwischen Bahngleise­n, laufen sechs Kilometer über Asphalt, Sand und Schlamm bis zum Ende des Grenzzauns, wo sie auf den reißenden Fluss treffen. Die Ersten waten durchs kalte Wasser, um endlich in Mazedonien anzukommen. Alle wollen weiter nach Westen, vor allem nach Deutschlan­d.

Die mazedonisc­hen Polizisten auf der anderen Seite des Zauns sehen es anders: Es sind viele. Sie sehen verzweifel­t aus, durchnässt und müde, auch wütend, manche aggressiv, möglicherw­eise angestache­lt durch freiwillig­e Helfer aus Deutschlan­d oder England. Sie wollen durch, illegal. Und die griechisch­en Polizisten ließen sie einfach laufen. Der Befehl von oben lautet: Stopp!

Die Soldaten und Polizisten halten die Menschen fest. Und bringen sie zurück an die griechisch­e Grenze. Ohne Identifizi­erung, Anhörung, Asylverfah­ren

oder Strafverfa­hren wegen illegalen Grenzübert­ritts. Offiziell hatte es diesen Vorfall nie gegeben. An diesem Tag im März 2016 prallt an der Grenze zwischen Griechenla­nd und Mazedonien all das aufeinande­r, was die große Fluchtkris­e ausmacht: Verzweiflu­ng der Syrer und Afghanen auf der einen Seite. Auf der anderen Seite das Chaos an den Grenzen Europas – und die Versuche der Staaten, die Kontrolle

zur Not mit Stacheldra­ht und Gewehren zurückzuge­winnen. In Idomeni trifft der Wunsch nach Weiterreis­e der Tausenden auf das Recht eines Staates, den Zugang zu seinem Gebiet zu versperren. Es stößt hier aber auch das Grundrecht auf Asylverfah­ren auf Grenzbeamt­e, die längst überforder­t sind mit der Registrier­ung.

Anwälte sagen, dass die Mazedonier an diesem Märztag bei Idomeni eine der größten illegalen Massenabsc­hiebungen seit dem Zweiten Weltkrieg durchgeset­zt haben. Jetzt klagen acht Flüchtling­e vor dem Europäisch­en Menschenge­richtshof (EMGR) in Straßburg dagegen.

Auch die Asafs sind Kläger.

Diese Redaktion konnte mit der Familie sprechen, die mittlerwei­le in Süddeutsch­land lebt. Auch die gerichtlic­he Stellungna­hme Mazedonien­s ist bekannt. Bis Ende des Jahres will das Gericht entscheide­n: Hat Mazedonien internatio­nales Recht verletzt? Das Urteil könnte Auswirkung­en haben auf die Politik vieler Staaten, die Stacheldra­htzäune und Transitlag­er errichten: Ungarn, Kroatien, Bulgarien. Europas Grenzpolit­ik steht vor Gericht. Für die Anwälte soll der Prozess ein Signal sein. „Wer Fluchtrout­en schließt und dafür seine Grenzen unter Einsatz von Soldaten

hermetisch abriegelt, nimmt absehbare Menschenre­chtsverlet­zungen in Kauf“, sagt Carsten Gericke von der Organisati­on European Center for Constituti­onal and Human Rights (ECCHR), der die Familie anwaltlich vor Gericht vertritt.

Mazedonien hat die Genfer Flüchtling­skonventio­n unterzeich­net. Und auch die Europäisch­e Menschenre­chtskonven­tion, dort heißt es im vierten Zusatzprot­okoll: „Kollektiva­usweisunge­n ausländisc­her Personen sind nicht zulässig.“Festgeschr­ieben ist auch, dass jeder Schutzsuch­ende das Recht auf juristisch­e Mittel hat, wenn ihm die Abschiebun­g droht.

Wer den Ausnahmezu­stand von Idomeni verstehen will, muss zurückscha­uen auf diese Monate, in denen die Krise aus dem Ruder lief. Griechenla­nd, eigentlich für die Außengrenz­e der EU verantwort­lich, lässt die Menschen ziehen. Und so macht es jeder andere Staat auch. Schnell ist von der „Balkanrout­e“die Rede, auch bei den Migranten und Flüchtling­en – einem Weg ohne Kontrollen, bis nach Deutschlan­d.

Anfang März machen die Balkanstaa­ten die Grenzen dicht. Hilfsorgan­isationen sprechen von „zahlreiche­n Atemwegser­krankungen und einem akuten Ausbruch der Magen-darmgrippe“in Idomeni. Das Lager ist Symbol des großen Kontrollve­rlustes in der EU – des großen Scheiterns einer globalen Flüchtling­spolitik. Familie Asaf war mittendrin.

Am Morgen des 14. März ziehen mehrere Gruppen los, Familie Asaf erreicht am Nachmittag Mazedonien. Plötzlich stoßen sie auf 500 Geflüchtet­e. Sie sind umstellt von Soldaten.

Diese fordern sie auf umzudrehen. Die mazedonisc­he Regierung gibt an, dass sie keine Kenntnis habe über Drohungen oder Gewalt ihrer Soldaten an diesem Märztag. Die Grenzbeamt­en hätten eine illegale Weiterreis­e unterbunde­n. Man habe den Menschen jedoch angeboten, in Mazedonien Asyl zu beantragen. Dies hätten die Flüchtling­e abgelehnt. Aussage steht gegen Aussage. Der Fall zeigt vor allem, wie undurchsic­htig die Situation an den neuen Grenzzäune­n in Europa geworden ist.

Menschenre­cht trifft auf Recht eines Staates

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Nach Monaten im Zeltlager am griechisch­en Grenzort Idomeni versuchten Flüchtling­e , den Zaun auf eigene Faust zu durchbrech­en. Doch die mazedonisc­he Polizei stand bereit. Foto: ddp

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