Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Die Seele des Gedichts
Der zu Ddrzeiten aus Greiz vertriebene Reiner Kunze wird 85 und lässt noch immer die Poesie sprechen
GREIZ. Dieser Dichter ist ein Phänomen. Wo immer im Kreis von Literaturfreunden aus der ehemaligen DDR das Gespräch auf Reiner Kunze kommt, wird mit leuchtenden Augen berichtet, das man seine Gedichte abgeschrieben habe. Mancher senkt noch heute die Stimme, wenn er erzählt, wie „Die wunderbaren Jahre“heimlich von Hand zu Hand gingen.
Auch wenn er sich inzwischen etwas rarer macht, füllt Reiner Kunze nach wie vor große Säle und Kirchenschiffe. Nach seinen Lesungen kann man beobachten, wie er geduldig eine halbe Stunde oder länger signiert. Und immer wieder wird er gebeten, ein Autogramm in eines seiner einst ins Land geschmuggelten oder abgetippten und selbst gebundenen Bücher zu setzen.
Für seine Gedichte nimmt er sich alle Zeit, die sie zum Werden brauchen. Vielleicht ist das das eine Geheimnis, das ihn zu einem der bedeutendsten lebenden Dichter Deutschlands macht. Ein anderes Geheimnis ist seine Fähigkeit, auf sparsamstem Raum durch überraschende Metaphern und höchst präzise Wortwahl Assoziationen zu wecken, wie es kaum ein Lyriker sonst vermag.
Zur Dichtung gehört, die Folgen zu tragen
Da verwundert es nicht, dass seit Erscheinen seines letzten Gedichtbandes „lindennacht“gut zehn Jahre vergingen, bis soeben anlässlich seines 85. Geburtstag „die stunde mit dir selbst. gedichte“(TLZ vom 11.8.) erschien. Äußerlich ein schmales Bändchen, bietet es in fünf Abschnitten sehr vieles von dem, was uns umtreibt. Weltkonflikte finden sich darin ebenso wie die Beobachtung von Wetterextremen. Die Selbstverständlichkeit des eigenen Todes verknüpft er mit der Frage: Was habe ich der Welt hinzugefügt? Er mischt sich ein und er stört auf. Und immer wieder bricht er eine Lanze für die höchste Form des schöpferischen Austausches – für das Gedicht. Im Titelgedicht „Die Stunde mit dir selbst“liest sich das so: „Die menschheit mailt // Du suchst das wort, von dem du mehr nicht weißt / als daß es fehlt“.
In einem Telefongespräch sagt Reiner Kunze: „Andere Gedichte konnten nicht entstehen. Es lag an den Problemen in ihrer Zeit.“Auf die Frage, was ihn zum Gedicht bringe, antwortet er: „Der Einfall.“In dem Gedicht
„Das Wesen Mensch“heißt es: „Mit wachsender entfernung / treiben immer schneller von der erde fort / trilliarden sonnen in milliarden galaxien // Sie fliehen uns, als wüßten sie, /vor wem sie fliehen“.
Und er sagt: „Anlass und Material für den Einfall liefert die Wirklichkeit. Will der Dichter seiner Verantwortung gegenüber der Poesie und den Menschen gerecht werden, besteht seine Freiheit einzig darin, ein Gedicht zu schreiben, das zur Dichtung gehört, und bereit zu sein, die Folgen zu tragen.“
Könnte man also sagen, Wahrhaftigkeit ist eine Seele des Gedichts? – „Das Gedicht kann nicht umkehren, umkehren kann nur der Dichter. Verfälscht er – aus welchen Gründen auch immer – die Wahrheit, die durch die Wirklichkeit ins Gedicht gelangt ist, stirbt das Gedicht und man kann den Dichter getrost vergessen.“
Reiner Kunze sieht sich der Wahrheit wie der Freiheit verpflichtet, seit er schreibt. 1959 bringt ihm Geradlinigkeit das Aus seiner Laufbahn an der Karl-marx-universität Leipzig. 1962 heiraten Elisabeth und Reiner Kunze und ziehen nach Greiz. Nach dem 11. Plenum 1965 setzt der Apparat den Dichter auf die schwarze Liste. Verlagsverträge werden gekündigt und seine Lyrik aus Anthologien getilgt. Einzig die Kirche und Freunde in der ČSSR bieten ihm noch ein Podium.
In dieser Zeit entstehen Gedichte, die fast jeder kennt, so auch „Das Ende der Kunst“: „Du darfst nicht, sagte die eule zum auerhahn, / du darfst nicht die sonne besingen / Die sonne ist nicht wichtig // Der auerhahn nahm / die sonne aus seinem gedicht // … und es war schön finster“.
1973 bringt Reclam Leipzig seinen Gedichtband „Brief mit blauem Siegel“heraus. Günter Kunert gratuliert: „Das Maximum des Möglichen!“1976 erscheint in der Bundesrepublik sein Kurzprosa-band „Die wunderbaren Jahre“und macht den Dichter über Nacht zum Weltautor. In der DDR wird auf Regierungsebene sein Ausschluss aus dem Schriftstellerverband beschlossen. Nach der erzwungenen Ausreise Ostern 1977 ruft Hermann Kant ihm nach: „Kommt Zeit, vergeht Unrat.“
Reiner Kunze wollte und will nur Dichter sein, doch auch andere Wortmeldungen waren und sind nicht zu vermeiden. Gleich nach seiner Ausbürgerung machte er sich in der bundesdeutschen Linken Feinde mit seiner Überzeugung, aus dem System im Osten „kommt kein neuer Anfang für die Menschheit, von daher nicht“.
Seine Verweigerung der vor 20 Jahren eingeführten Rechtschreibreform ist legendär. Ihn schmerzt es, wie die über Jahrhunderte gewachsene Sprache deformiert wird „vom Hochentwickelten zum Primitiven, vom Unmißverständlichen zum Mißverständlichen“. Er mahnt gegen radikale Tendenzen in der Gesellschaft von links wie rechts: „Ein Holocaust kann ebenso wahr werden wie ein stalinistisches Regime.“Ähnliche Gefahren sieht er im Islamismus. Er sagt: „Ich hege keinerlei Antipathie gegenüber Muslimen, die mir dieselbe Würde zugestehen wie ihresgleichen. Muslime mit dem Gastgeschenk der Scharia hinter dem Rücken fürchte ich.“
Doch am liebsten lässt Reiner Kunze die Poesie sprechen. Für dieses wunderbare Geschenk können wir ihm nur Dank und Dank und nochmals Dank sagen.
Unser Autor hat im Mitteldeutschen Verlag Halle eine Biografie über Reiner Kunze veröffentlicht.