Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
„Großbritannien droht Chaos“
Was passiert, wenn das britische Parlament dem Brexit-abkommen nicht zustimmt? Der Jenaer Wirtschaftswissenschaftler Andreas Freytag skizziert die Folgen
Das britische Parlament muss über das Brexit-abkommen seiner Regierung mit der EU abstimmen – Ausgang ungewiss. Es ist ein weiteres Kapitel im Nervenkrieg um den Austritt des Landes aus der Europäischen Union. Der Jenaer Wirtschaftswissenschaftler Andreas Freytag warnt vor einem Ausstieg ohne Deal – und empfiehlt den Briten, den Brexit noch einmal zu überdenken.
Was ist eigentlich schlimmer aus Sicht der EU – Brexit oder ein unkooperatives Italien?
Der Brexit. Das war die dümmste Entscheidung, die die Briten in Jahrzehnten gefällt haben. Jene, die dafür gestimmt haben, werden vermutlich am meisten darunter leiden.
Und wer ist das?
Sie kommen mehrheitlich aus den Regionen, die wirtschaftlich schwach sind. Die haben bisher in Großbritannien die meisten Eu-gelder bekommen. Leider haben die Transfers nicht unbedingt dazu beigetragen, stärker zu werden. Es hat eher dazu geführt, dass die Regionen bleiben, wie sie sind. Um weiterhin Eugeld zu bekommen, darf man sich nicht zu sehr anstrengen; die Logik ist ähnlich wie bei der Entwicklungshilfe.
Tatsächlich?
Die Strategie dient den Eliten dazu zu sagen „Wir können es nicht allein. Gebt uns mehr.“Eigentlich müsste das Geld genutzt werden, um Strukturen zu verändern. Tatsächlich werden Entwicklung so oft ausgebremst und Strukturen bewahrt. So ist das manchmal – nicht immer – auch mit den Regionalprogrammen der EU. Wirklich profitiert hat Irland. Viele weitere Beispiele fallen einem nicht ein.
Man könnte die Transfers aber zur Entwicklung nutzen.
Aber das passiert zu selten. Leider sind es die Regionen, die auch von ihrer eigenen Regierung vernachlässigt werden. Großbritannien ist ein relativ zentralistisches Land. Die Zentrale in London hat sich natürlich kaum um beispielsweise Nord-wales gekümmert. Wenn man dann eine konservative Regierung hat und in Nord-wales gewinnt immer der Labour-abgeordnete, dann passiert erst recht nichts.
Jetzt kommt voraussichtlich im März 2019 der Brexit. Und dann?
Die Leute in den schwachen Regionen, die für den Brexit gestimmt haben, werden nicht profitieren. Zunächst mal wird die wirtschaftliche Lage sich generell verschlechtern. Niemand kommt auf die Idee, den Kohlebergbau oder ein Stahlwerk wiederzueröffnen. Ähnlich sieht man es bei Donald Trump. Unter anderem als Reaktion auf dessen Handelspolitik – der die die Stahlrechnung für den Autobauer um etwa eine Milliarde Us-dollar verteuern soll – baut General Motors jetzt 15.000 Arbeitsplätze ab.
Ich dachte, die kommen mit der Elektromobilität nicht so voran, wie geplant.
Das kommt noch dazu. Es nicht der alleinige Auslöser. ist
Also ist der Brexit eine Gefahr für die Briten?
Mein Eindruck in Großbritannien ist, dass Frau May Probleme haben wird, den Brexit-deal überhaupt durchs Parlament zu bekommen. Scheitert das, gibt es zwei Möglichkeiten. Kein Deal ist die erste.
Und die bedeutet was?
Chaos. Die Schätzungen – in dem Falle Szenarien der Bank of England – gehen so weit, dass die Wirtschaftsleistung um eine zweistellige Zahl an Prozentpunkten zurückgeht. Über mehrere Jahre verteilt. Aber ab Ende März gelten beim No-deal-brexit keine Verträge mehr zwischen Großbritannien und der EU.
Ein so starker Einbruch der Wirtschaftsleistung würde ja bedeuten, dass viele Menschen ihre Arbeitsplätze verlieren.
Das ist über mehrere Jahre zu erwarten. Auch bei der Versorgung wird es Probleme geben. Die bisherigen Regelungen des freien Warenverkehrs sind nicht mehr gültig. Die französische Regierung soll bereits einen 47 Kilometer langen Straßenabschnitt nach Calais so eingerichtet haben, auf dem Lastwagen künftig Schlange stehen können.
Das kennt man noch von ganz früher, etwa an der Grenze zu Polen.
Das muss man sich mal klar machen. Tausende Lastwagen, die allein zwischen Calais und Dover jeden Tag verkehren. Und es gibt noch mehr potenzielle Probleme. Die Einfuhr von Lebensmitteln wird stocken, medizinische Güter könnten knapp werden. Wertschöpfungsketten werden unterbrochen. Das Open-sky-abkommen gilt nicht mehr, Easyjet zum Beispiel könnte nicht mehr innerdeutsch oder innereuropäisch fliegen.
Aber man könnte doch bestehende Verträge einfach weiter laufen lassen.
Klar, man könnte so tun, als gelte noch alles. Aber das ist alles nicht mehr sicher. Vor allem mit Blick auf die Zukunft: Investoren brauchen sichere und stabile Rahmenbedingungen.
Und Möglichkeit zwei neben dem Chaos?
Ein zweites Referendum. Das ist auch in Großbritannien bei vielen Menschen ein Thema. Auch das würde knapp werden. Es werden nicht plötzlich 90 Prozent sagen, dass sie falsch lagen. Vermutlich ist das ein systematisches Problem der Briten, das mit ihrer früheren Größe zusammenhängen könnte.
Mit klingt noch im Ohr, dass viele Menschen der Meinung waren, sie wären ohne die EU einfach besser dran. Ein falscher Eindruck?
Der zurückgetretene Außenminister Boris Johnson ist mit einem Bus auf Tour gewesen, auf dem plakatiert war, dass man jede Woche 350 Millionen Pfund an die EU zahlt, die dann ins nationale Gesundheitssystem fließen könnten.
Das wurde direkt nach der Abstimmung kassiert.
Genau, und illegal finanziert wurde die Brexit-kampagne offenbar auch, wenigstens in Teilen. Da ist eine Menge schief gelaufen. Das passt recht gut ins allgemeine Bild. In Italien wird auch viel mit Angst gearbeitet. Dort wird den Leuten auch eingeredet, sie müssten zurück zu einer Art geschlossenem System. Da könnte man jetzt schauen, wie Populismus funktioniert. „Wir“als Italien werden durch eine korrupte Elite vom Ausland, also durch die EU, ausgebeutet. Für die Brexit-anhänger war das ganz ähnlich.
Man braucht einen äußeren Feind.
Für Trump sind es Mexikaner, Chinesen oder die deutsche Autobranche. Oder die Elite in Washington. Für die AFD sind es Flüchtlinge und Altparteien. Es sind immer Eliten und Auswärtige. Je unsicherer die Menschen sind, desto leichter verfängt das.
Spielen wir doch mal ein Waswäre-wenn-szenario durch. Nehmen wir an, es kommt zum ungeordneten Austritt. Was bedeutet der konkret neben der Lastwagen-schlange? Was bedeutet der Brexit für uns?
Um im Beispiel zu bleiben: Es könnte sein, dass Flugpläne britischer Luftfahrtgesellschaften nicht mehr gelten. Ryanair als irische Gesellschaft wäre nicht betroffen. Außerdem ist die Frage ungeklärt, welchen Status deutsche Ärzte in London haben, welchen Status britische Rentner auf Tenneriffa haben. Wir wissen nicht, ob wir noch Studenten nach London schicken können.
Die Unis in Großbritannien bekämen weniger Zuspruch?
Für die dürfte es schwieriger werden. Dort geht es ohnehin sehr international zu. Griechen, Russen, Deutsche – alle an einer Uni in Großbritannien. Jetzt kappt man die Beziehungen. Dürfen dann die Europäer nicht mehr zum gleichen Preis kommen wie die Briten und müssten mehr zahlen? Dann würden viele Europäer nicht mehr kommen und Cambridge könnte zur „Provinz“verkommen. Natürlich nicht so sehr Provinz wie wir (lacht), aber sicher keine Weltklasse mehr. Ohne internationale Professoren und Studenten wäre dort an den Unis viel weniger los.
Wie steht es denn mit der deutschen Wirtschaft?
Die EU ist eine Zollunion, innerhalb der Zone gibt es keine Zölle. Die Briten wären dann nur noch ein Land unter vielen. Die EU hat mehr als 50 Freihandelsabkommen mit unterschiedlichen Ländern, das wäre ohne Brexit-deal aber nicht mehr gegeben. Nur für den Fall, dass der Brexit-deal angenommen wird, bliebe man vorerst in der Zollunion. Gibt es nun internationale Lieferketten, wird das ohne Abkommen enorm erschwert. In Deutschland wird etwas gefertigt, in Großbritannien gibt es weitere Arbeitsschritte und dann wird wieder in die EU geliefert, da drohen künftig gleich mehrfach Zölle. Das ist ein Problem, denn Großbritannien ist in diese Wertschöpfungsketten im Moment voll integriert. Zudem wäre es ein Problem, wenn diese Zwischenprodukte mehrfach durch den Zoll müssen. Die USA merken gerade, wie teuer Stahl geworden ist für ihre Autobranche. Dieses Phänomen kann die deutsche Wirtschaft natürlich treffen. Die britische Wirtschaft wird es härter treffen. Die Kosten lassen sich schultern, aber die Verwaltungsprobleme nicht.
Verwaltungsprobleme?
Was, wenn lebenswichtige Medikamente im Zoll festhängen? Großbritannien hat ja nicht einmal genügend Zollbeamte. Personalberater suchen in ganz Europa nach Experten für Verwaltungsposten, die durch den Eu-austritt nötig werden. Viele Ökonomen sind gefragt worden, ob sie Berater im Handelsministerium werden wollen. Lange haben die Briten dafür keine Fachleute gefunden, sie mussten weite Wege gehen. Mit Zollbeamten ist es ähnlich. Das bedeutet, die Lagerzeiten steigen durch den Zoll, Kühlkosten nehmen zu. Und in der 40-Kilometer-lastwagen-schlange stehen ist auch kein Spaß.
Könnte es denn noch gut ausgehen?
Ich vermute ja. Frau May scheint durchaus in der Lage zu sein, ihre Fraktion zusammenzuhalten. Das Misstrauensvotum in der konservativen Partei gegen sie ist ja schon zusammengefallen. Der Abgeordnete Reesmogg hat nicht die nötigen Stimmen dafür zusammenbekommen.
Das ist der mit dem komischen Anzug.
Genau. Angeblich hatte der 48 Abgeordnete zusammen, um den Misstrauensantrag gegen die Premierministerin zu stellen. Als es dann hart auf hart kam, hatte er nur 20 Briefe von 48, die nötig gewesen wären. Wahrscheinlich hatten die dann doch Wichtigeres zu tun. Viele waren da wohl nur Maulhelden.
Es wäre also die beste Lösung, wenn das Brexit-abkommen so durchkommt?
Nein, die beste Lösung wäre, wenn das Abkommen scheitert und man sich zu einer zweiten Volksabstimmung entschließt, bei der eine knappe Mehrheit dafür stimmt, doch in der EU zu bleiben; europarechtlich scheint das ja möglich zu sein. Viele würden heute abstimmen, die bei der ersten Abstimmung gar nicht wählen waren. Für jüngere Leute ist die EU viel eher Selbstverständlichkeit, die würden heute wahrscheinlich zur Wahl gehen.