Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Auf Raten mundtot gemacht
1976 rebellieren Erfurter Studenten gegen den Rauswurf eines Kommilitonen. Das Buch „Rädelsführer“erzählt jetzt die ganze Geschichte
Hochschulen und Universitäten in der DDR sind immer wieder Schauplatz politisch motivierter Auseinandersetzungen über den Staat und seine Ideologie. Beispiele dafür finden sich auch in der Thüringer Geschichte: Kurz nach dem Mauerbau werden an der Universität Jena Hunderte Studenten in einem Hörsaal eingesperrt, sie sollen sich vom kritischen Mathematikprofessor Walter Brödel distanzieren. In Weimar wird Anfang der 1970er der Musikstudent Johannes Wallmann von der Musikhochschule relegiert und um sein bereits bestandenes Diplom betrogen. Statt in der FDJ, engagierte sich der Pfarrerssohn in der evangelischen Studentengemeinde, zudem hält er Kontakt zu Wolf Biermann und Reiner Kunze.
An der Uni Jena werden ab Mitte der 70er kritische Geister wie Jürgen Fuchs, Siegfried Reiprich, Lutz Rathenow und schließlich auch der heutige Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, Roland Jahn, zwangsexmatrikuliert. Fuchs, Reiprich und Rathenow betätigten sich im oppositionellen Arbeitskreis Literatur und Lyrik, Jahn protestierte gegen die Zensur. Widerspruch weckte nicht zuletzt die zwangsweise Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976.
Über einen Fall aus Erfurt berichtet das Buch „Rädelsführer. Studentischer Protest in der DDR 1976“. Zum Stein des Aufruhrs wird ein kritischer Artikel für die Zeitung der Pädagogischen Hochschule (PH). Den Verfasser kostet er das Studium. Kommilitonen, die sich solidarisieren, werden eingeschüchtert und bedroht, einige ebenfalls gefeuert. Der eisernen Volksbildungsministerin Margot Honecker versichert die Hochschulleitung eilfertig , man werde „zu den Rädelsführern vordringen“.
Zu den Hintergründen des damals aufkeimenden Jugendwiderstandes vorgedrungen sind jetzt Studenten der Erfurter Universität. Im Rahmen eines Seminares unter der Leitung von Jochen Voit, Chef der Gedenkund Bildungsstätte Andreasstraße, haben sie mit Zeitzeugen gesprochen sowie Akten und persönliche Aufzeichnungen aus der Zeit gesichtet. Ihr „Protokoll einer Auflehnung“dokumentiert die Ereignisse vor, während und nach dem Protest. Wie unter einem Brennglas zeigten die Vorfälle an der Erfurter Hochschule die Unterdrückung jugendlichen Aufbegehrens am Vorabend der Biermann-ausbürgerung.
Zum Urheber der Ereignisse wird der Student Wilfried Linke. Der 26Jährige ist verheiratet und hat den Namen seiner Frau angenommen. Junge Leute dieser Zeit stehen unter dem Eindruck von unkonventionellen Filmen wie „Die Legende von Paul und Paula“oder „Blutige Erdbeeren“, Letzterer auch eine musikgewaltige Kampfansage gegen autoritäre Bildungsstrukturen. Auch unter Erfurter Studenten rumort es. Nach Weltjugendfestspielen und Ksze-beschlüssen wirkt die indoktrinierende „Rotlichtbestrahlung“, wie der langweilige Unterricht in Marxismus-leninismus (ML) auch genannt wird, mehr als überholt. In seinem Artikel – Titel: „Sieben unverblümte Äußerungen über Bekanntes“– stellt Wilfried Linke in sieben Thesen das schulmeisterliche Herbeten abgedroschener Phrasen infrage, ebenso die gebetsmühlenartig beschworenen „Einsichten in die Notwendigkeit“, deren Einsehbarkeit hinfällig geworden sei. Statt dessen fordert er die Vermittlung eingreifenden Denkens und Handelns. Seine Überlegungen kursieren nicht als heimliche Flugschrift. Linke will, dass sie in der Hochschule öffentlich diskutiert werden. Er weiß, dass viele so über das Thema denken wie er.
An der Kaderschmiede der sozialistischen Lehrerschaft beißt er damit auf Beton. Sein Artikel wird nicht nur nicht gedruckt, Linke soll seine Thesen zurücknehmen. Als er das nicht tut, läuft eine ganze Maschinerie von Partei- und Stasiaktivitäten an, um den Aufrührer von der PH zu entfernen und Sympathisanten möglichst schnell wieder auf Linie zu bringen. Akribisch dokumentiert das Buch, welche der vielen Informellen Stasimitarbeiter (IM) unter den Lehrkräften wann und wie in das Geschehen eingreifen und gemeinsam mit der aufgescheuchten Hochschulleitung dunkle Ränke schmieden.
Als Linke schließlich zwangsexmatrikuliert wird, nehmen seine Kommilitonen das nicht einfach hin. In der Hoffnung auf Hilfe schreiben sie an Margot Honecker, Die „lila Hexe“, wie die Volksbildungsministerin wegen ihrer Haarfarbe auch genannt wird, bleibt hart. Auch ein Hilferuf an den Schriftsteller Volker Braun zeitigt keine Wirkung. Braun setzt sich zwar für die Studenten ein, kann aber nichts ausrichten.
Mit ihm wie mit vielen anderen Akteuren von damals haben die Studenten von heute für das Projekt „Rädelsführer“gesprochen. Man sei damals ziemlich blauäugig an die Sache herangegangen, habe vergeblich gehofft, etwas ändern zu können. Zu denen, die sich für Linke einsetzten, gehörte seine damalige Kommilitonin und stellvertretende Fdj-sekretärin Gabriele Kachold (jetzt Stötzer), die heute als freie Künstlerin in Erfurt und Holland lebt. SED und Stasi sehen in ihr einen der gesuchten „Rädelsführer“, auch sie verliert ihren Studienplatz. Die Unterdrückung der Proteste von Erfurt seien eine Mundtotmachung auf Raten gewesen. Je länger der Widerstand dauerte, desto heftiger wüten die Verfolger. Erfurt wurde so auch zum Beispiel dafür, wie die Kriminalisierung der Hoffnung auf Veränderung Menscheninderddrindieechtepolitische Opposition trieb, so Projektleiter Jochen Voit. Gabriele Stötzer bezahlte ihren Mut später mit vielen Monaten Haft im Stasi-gefängnis.
Die Nase voll von der „Rotlichtbestrahlung“