Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Suche nach einer Weltformel

Mit „Imagine“haben John Lennon und Yoko Ono Kunstwerk, Botschaft und Marke zugleich geschaffen. Etwas das die Zeit überdauert. Nun gibt es letzte tiefe Einblicke in seine Entstehung und Metamorpho­se

- Von Christian Werner

Er hat eine Menge Seele, dieser John“, soll Ringo Star über seinen Band-kollegen einmal gesagt haben. Es ging um das Lied „Good Night“vom Weißen Album, eines der wenigen, das der Beatles-schlagzeug­er singen durfte. Ein Schmachtst­ück, von dem viele dachten, Paul Mccartney hätte es geschriebe­n. Doch es war Lennons Kompositio­n – ein Schlaflied für seinen Sohn Julian.

Die Anekdote lässt die Charaktere erahnen, die man den Fab Four verpasst hatte: Ringo, der Spaßvogel. George, der Stille. Paul, der Schöne, der die Balladen und Liebeslied­er schreibt. Und John, der Rebellisch­e, der Rocker. Heute weiß man: Diese Schubladen passten nicht. Vor allem nicht beim Songwritin­g.

„Imagine“, Lennons zweites Solo-album nach dem Ende der Beatles, ist ein guter Beweis dafür. Man bekommt auf der Platte viele Spielarten des John Lennon: den rockigen („It’s so hard“), den sarkastisc­h-ätzenden („How do you sleep“), den romantisch­en („Oh my Love“), den ausgelasse­nen („Oh Yoko“), den zweifelnde­n („Jealous Guy“) oder den politische­n („Gimme some Truth“).

Und natürlich den Weltverbes­serer: „Imagine there’s no Heaven. No Hell below us. It’s easy if you try. Above us only Sky.“(Stell dir vor, es gibt keinen Himmel. Keine Hölle unter uns. Du musst es nur versuchen. Über uns nur der Himmel.) Der Titelsong des Albums ist so etwas wie das Markenzeic­hen Lennons geworden. Ein musikgewor­denes Mantra.

Man kann das naiv finden, voller Phrasen, die sich im Laufe der Jahre bis zur Bedeutungs­losigkeit abgenutzt haben. Vielleicht auch einfältig und realitätsf­ern. Anderersei­ts: Müssen Visionen nicht verständli­ch formuliert sein, um zu zünden?

Lennon skizziert eine Welt ohne von Menschen geschaffen­e Zwänge und Grenzen, physisch und psychisch. Es ist eine Idee, eine Vision, vielleicht sogar der Ansatz zu einer Formel, wie Leben, Zusammense­in, das Miteinande­r, das große Ganze besser gelingen könnte. Die Reduzierun­g auf wenige Sprachbild­er ist zwingend als Schlüssel für einen gesellscha­ftlichen Konsens. Wenn, ja, wenn der Mensch und seine Makel nicht wären.

„Imagine“ist ein Klassiker. Aber weit mehr als ein Lied oder ein Album. „Imagine“ist materiell betrachtet zuerst ein Gesamtkuns­twerk aus Musik, Film, Buch und Skulptur. Das Album wird heuer wiederverö­ffentlicht mit Demos von den Aufnahmepr­ozessen und in verschiede­nen Abmischung­en, mit denen man so tief wie nie in seine Entstehung eintauchen kann. Auch der dazugehöri­ge Film wird restaurier­t neu aufgelegt.

Das Buch „Imagine John Yoko“kümmert sich um Tiefenwirk­ung auf einer anderen Ebene: Zu dem opulenten Bildband mit teils unveröffen­tlichten epischen Fotos hat man seitenlang­e Zitate gestellt „von allen, die dabei waren“, vom Toningenie­ur bis zur Sekretärin. Man lernt Lennons legendäres Tittenhurs­t-anwesen in Großbritan­nien bis in die kleinste Besenkamme­r kennen; in dem Haus hatte er das Album aufgenomme­n.

Der „Imagine Peace Tower“wiederum strahlt im Auftrag von Yoko Ono seit 2007 ein helles Licht in den Himmel über Reykjavík; man kann das auch per Livestream im Internet beobachten.

„Imagine“ist ein Symbol. Für die Liebe. Für die von John Lennon und Yoko Ono, die sie teils mit nymphomani­schen Zügen, teils aus uneigennüt­zigen Motiven mit der Welt teilten und somit zu etwas machten, das mehr ist als das, was zwei Menschen im Herzen verbindet.

Genau genommen ist es sogar der Anfang ihrer Liebe. Als Lennon 1966 in der Londoner Indica-galerie zum ersten Mal auf die Künstlerin aus Japan trifft, sind „Imagine“-aufforderu­ngen bereits Teil ihrer Kunstinsta­llationen. Was sich daraus entwickelt ist eine Beziehung, die John Lennon: Universal Music, veröffentl­icht in verschiede­nen Formaten

Imagine

Grenzen überwindet. Kulturelle, gesellscha­ftliche, zwischenme­nschliche. Von West nach Ost und umgekehrt.

Über all dem steht „Imagine“als Botschaft. Die nicht endete, als John Lennon, auf den Tag vor 38 Jahren vor seinem Haus in New York von einem geistig verwirrten Fan mit fünf Schüssen ermordet wurde. Dafür sorgt Yoko Ono, geschäftst­üchtig zwar, denn „Imagine“ist auch eine Marke wie die vielen Veröffentl­ichungen in diesem Jahr zeigen.

Aber stets bemüht um das künstleris­che Erbe ihres Mannes und unablässig für eine Idee kämpfend. Es geht um nichts Geringeres als den Weltfriede­n.

Liebe und Frieden. Die Botschaft ist nicht exklusiv an das Künstlereh­epaar gebunden, sie ist auch keine Erfindung der beiden. Aber John Lennon und Yoko Ono haben ihr eine Form gegeben, eine Assoziatio­nsgrundlag­e, die man weltweit, durch Gesellscha­ftsschicht­en und Generation­en übergreife­nd versteht.

Man kann und muss kritisch anmerken, dass es zynisch wirkt, wenn ausgerechn­et ein Millionär eine bessere Welt predigt. Der eigenen und menschlich­en Unzulängli­chkeiten war sich Lennon aber bewusst. Im Buch wird er zitiert: „Ich bin nicht selbstsich­er genug, um alles aufzugeben, weil ich es brauche, um mich vor dem zu schützen, was mir Angst macht.“

Ganz normale Existenzän­gste also. Auch ein John Lennon war nur ein Mensch. Einer, der mit seiner kleinen Band die immer noch gültigen Grundlagen der Popmusik und somit viele Prägungen unserer Gesellscha­ft gelegt hat.

Er hat erkannt: Was zählt, ist die Liebe. Eben: All you need is love. Noch so eine Phrase. Aber passend zu jedem Zeitgeist, auch – oder vor allem – zum heutigen.

Das führt direkt zu einer anderen Botschaft aus dem Beatles-universum: „Die Liebe, die du gibst, ist gleich der Liebe, die du erhältst.“Die stammt aber wirklich aus der Feder eines anderen Pilzkopfes.

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FOTO: IAIN MACMILLAN, ©YOKO ONO LENNON John Lennon und Yoko Ono beim Dreh für den Film „Imagine“am East Coast Memorial, Battery Park, New York, am 4. September 1971.

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