Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Suche nach einer Weltformel
Mit „Imagine“haben John Lennon und Yoko Ono Kunstwerk, Botschaft und Marke zugleich geschaffen. Etwas das die Zeit überdauert. Nun gibt es letzte tiefe Einblicke in seine Entstehung und Metamorphose
Er hat eine Menge Seele, dieser John“, soll Ringo Star über seinen Band-kollegen einmal gesagt haben. Es ging um das Lied „Good Night“vom Weißen Album, eines der wenigen, das der Beatles-schlagzeuger singen durfte. Ein Schmachtstück, von dem viele dachten, Paul Mccartney hätte es geschrieben. Doch es war Lennons Komposition – ein Schlaflied für seinen Sohn Julian.
Die Anekdote lässt die Charaktere erahnen, die man den Fab Four verpasst hatte: Ringo, der Spaßvogel. George, der Stille. Paul, der Schöne, der die Balladen und Liebeslieder schreibt. Und John, der Rebellische, der Rocker. Heute weiß man: Diese Schubladen passten nicht. Vor allem nicht beim Songwriting.
„Imagine“, Lennons zweites Solo-album nach dem Ende der Beatles, ist ein guter Beweis dafür. Man bekommt auf der Platte viele Spielarten des John Lennon: den rockigen („It’s so hard“), den sarkastisch-ätzenden („How do you sleep“), den romantischen („Oh my Love“), den ausgelassenen („Oh Yoko“), den zweifelnden („Jealous Guy“) oder den politischen („Gimme some Truth“).
Und natürlich den Weltverbesserer: „Imagine there’s no Heaven. No Hell below us. It’s easy if you try. Above us only Sky.“(Stell dir vor, es gibt keinen Himmel. Keine Hölle unter uns. Du musst es nur versuchen. Über uns nur der Himmel.) Der Titelsong des Albums ist so etwas wie das Markenzeichen Lennons geworden. Ein musikgewordenes Mantra.
Man kann das naiv finden, voller Phrasen, die sich im Laufe der Jahre bis zur Bedeutungslosigkeit abgenutzt haben. Vielleicht auch einfältig und realitätsfern. Andererseits: Müssen Visionen nicht verständlich formuliert sein, um zu zünden?
Lennon skizziert eine Welt ohne von Menschen geschaffene Zwänge und Grenzen, physisch und psychisch. Es ist eine Idee, eine Vision, vielleicht sogar der Ansatz zu einer Formel, wie Leben, Zusammensein, das Miteinander, das große Ganze besser gelingen könnte. Die Reduzierung auf wenige Sprachbilder ist zwingend als Schlüssel für einen gesellschaftlichen Konsens. Wenn, ja, wenn der Mensch und seine Makel nicht wären.
„Imagine“ist ein Klassiker. Aber weit mehr als ein Lied oder ein Album. „Imagine“ist materiell betrachtet zuerst ein Gesamtkunstwerk aus Musik, Film, Buch und Skulptur. Das Album wird heuer wiederveröffentlicht mit Demos von den Aufnahmeprozessen und in verschiedenen Abmischungen, mit denen man so tief wie nie in seine Entstehung eintauchen kann. Auch der dazugehörige Film wird restauriert neu aufgelegt.
Das Buch „Imagine John Yoko“kümmert sich um Tiefenwirkung auf einer anderen Ebene: Zu dem opulenten Bildband mit teils unveröffentlichten epischen Fotos hat man seitenlange Zitate gestellt „von allen, die dabei waren“, vom Toningenieur bis zur Sekretärin. Man lernt Lennons legendäres Tittenhurst-anwesen in Großbritannien bis in die kleinste Besenkammer kennen; in dem Haus hatte er das Album aufgenommen.
Der „Imagine Peace Tower“wiederum strahlt im Auftrag von Yoko Ono seit 2007 ein helles Licht in den Himmel über Reykjavík; man kann das auch per Livestream im Internet beobachten.
„Imagine“ist ein Symbol. Für die Liebe. Für die von John Lennon und Yoko Ono, die sie teils mit nymphomanischen Zügen, teils aus uneigennützigen Motiven mit der Welt teilten und somit zu etwas machten, das mehr ist als das, was zwei Menschen im Herzen verbindet.
Genau genommen ist es sogar der Anfang ihrer Liebe. Als Lennon 1966 in der Londoner Indica-galerie zum ersten Mal auf die Künstlerin aus Japan trifft, sind „Imagine“-aufforderungen bereits Teil ihrer Kunstinstallationen. Was sich daraus entwickelt ist eine Beziehung, die John Lennon: Universal Music, veröffentlicht in verschiedenen Formaten
Imagine
Grenzen überwindet. Kulturelle, gesellschaftliche, zwischenmenschliche. Von West nach Ost und umgekehrt.
Über all dem steht „Imagine“als Botschaft. Die nicht endete, als John Lennon, auf den Tag vor 38 Jahren vor seinem Haus in New York von einem geistig verwirrten Fan mit fünf Schüssen ermordet wurde. Dafür sorgt Yoko Ono, geschäftstüchtig zwar, denn „Imagine“ist auch eine Marke wie die vielen Veröffentlichungen in diesem Jahr zeigen.
Aber stets bemüht um das künstlerische Erbe ihres Mannes und unablässig für eine Idee kämpfend. Es geht um nichts Geringeres als den Weltfrieden.
Liebe und Frieden. Die Botschaft ist nicht exklusiv an das Künstlerehepaar gebunden, sie ist auch keine Erfindung der beiden. Aber John Lennon und Yoko Ono haben ihr eine Form gegeben, eine Assoziationsgrundlage, die man weltweit, durch Gesellschaftsschichten und Generationen übergreifend versteht.
Man kann und muss kritisch anmerken, dass es zynisch wirkt, wenn ausgerechnet ein Millionär eine bessere Welt predigt. Der eigenen und menschlichen Unzulänglichkeiten war sich Lennon aber bewusst. Im Buch wird er zitiert: „Ich bin nicht selbstsicher genug, um alles aufzugeben, weil ich es brauche, um mich vor dem zu schützen, was mir Angst macht.“
Ganz normale Existenzängste also. Auch ein John Lennon war nur ein Mensch. Einer, der mit seiner kleinen Band die immer noch gültigen Grundlagen der Popmusik und somit viele Prägungen unserer Gesellschaft gelegt hat.
Er hat erkannt: Was zählt, ist die Liebe. Eben: All you need is love. Noch so eine Phrase. Aber passend zu jedem Zeitgeist, auch – oder vor allem – zum heutigen.
Das führt direkt zu einer anderen Botschaft aus dem Beatles-universum: „Die Liebe, die du gibst, ist gleich der Liebe, die du erhältst.“Die stammt aber wirklich aus der Feder eines anderen Pilzkopfes.