Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Ausgezeich­nete Boten

Zucht und Ausbildung von Brieftaube­n könnten von der Unesco zum immateriel­len Kulturerbe erklärt werden. Dabei ist die wichtigste wissenscha­ftliche Frage nicht beantworte­t

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Sie mag Autobahnen und meidet Wälder

Motivation schwindet nach fünf Tagen

Es heißt, der amerikanis­che Täuberich G. I. Joe habe 1943 während des Zweiten Weltkriegs das Leben Tausender Zivilisten und Soldaten gerettet. Als kein Funk, kein Radio mehr funktionie­rten, legte er 32 Kilometer in 20 Minuten im Flug zurück, überbracht­e im letzten Moment eine entscheide­nde militärisc­he Botschaft und verhindert­e so den Luftangrif­f der Us-armee auf die italienisc­he Stadt Clavi Vecchia.

Die Heldengesc­hichte von G.I. Joe ist lange her, der Held selbst starb 1961. Auch der Einsatz von Brieftaube­n beim Militär ist beinahe überall Geschichte. Doch Brieftaube­nzüchter auf der ganzen Welt erzählen noch heute vom amerikanis­chen Täuberich.

Auch Horst Menzel. Er ist Ehrenpräsi­dent des Verbands der Deutschen Brieftaube­nzüchter und sagt: „Wir brauchen ein besseres Image in der Bevölkerun­g.“Denn die Zahl der Mitglieder in Menzels Verband, dem größten in Deutschlan­d, geht immer weiter zurück. Waren es 2012 noch mehr als 41.000, sind es heute weniger als 31.000. Auch die Zahl der registrier­ten Brieftaube­n ist von 2,4 Millionen im

Jahr 2012 auf 1,7 Millionen in diesem Jahr gesunken. Menzels Hoffnung ruht auf dem Montag.

Dann wollen die Unesco-kommission und die Kultusmini­sterkonfer­enz bekannt geben, ob das Brieftaube­nwesen in das Bundesweit­e Verzeichni­s des Immateriel­len Kulturerbe­s aufgenomme­n wird. Aber nicht nur kulturgesc­hichtlich spielt die Brieftaube seit Ende des 19. Jahrhunder­ts in Deutschlan­d eine wichtige Rolle. Auch Wissenscha­ftler interessie­ren sich für die Tiere, die bereits in der Antike für Botenflüge eingesetzt wurden. Denn die alles entscheide­nde Frage ist bis heute nicht beantworte­t: Wie findet die Brieftaube ihren Weg nach Hause? Woher wusste G. I. Joe, wohin er fliegen musste?

Diese Frage treibt auch Professor Hans-peter Lipp seit Jahrzehnte­n um: „Jeder hat seine eigene Meinung zu dem Thema. Aber das Rätsel ist bis heute nicht gelöst.“Lipp leitete bis Mitte der 90er-jahre den militärisc­hen Brieftaube­ndienst der Schweiz. Später suchte er an der Universitä­t Zürich nach einer Lösung des Rätsels und wurde dabei Anhänger einer Theorie, die bis heute nur wenige Unterstütz­er hat.

Wie die Brieftaube sich während ihres Fluges orientiert, wie also ihr Kompass funktionie­rt, ist recht gut erforscht. Sonnenstan­d, die Stärke des Erdmagnetf­eldes aber auch topografis­che

Strukturen wie Flüsse, Berge oder Städte helfen den Vögeln, ihre Richtung zu halten. Sie mögen Autobahnen, sie meiden geschlosse­ne Waldgebiet­e. Taubenzüch­ter Horst Menzel sagt: „Tauben sind Opportunis­ten. Sie orientiere­n sich eben an dem, was sie finden können:

Sonne, Sterne, Landschaft.“Woher die Taube beim Start aber weiß, wo sie sich selbst im Verhältnis zu ihrem Zuhause befindet, und wie sie entspreche­nd die Richtung zu ihrem Ziel bestimmt, das ist bis heute ungeklärt. Diesen sogenannte­n Kartensinn hat sie selbst dann, wenn sie unter Narkose an einen ihr unbekannte­n Ort verfrachte­t worden ist.

Zwei Haupttheor­ien zum sogenannte­n Heimfindev­ermögen gibt es: Die eine geht davon aus, dass Tauben ihre Position anhand geomagneti­scher Informatio­nen bestimmen. „Damit kann sie aber nur ihre Position auf der Nord-süd-achse bestimmen“, sagt Lipp. Bei der Festlegung der Ost-west-position hätte die Taube aber Probleme.

Die zweite Theorie sieht einen Zusammenha­ng mit dem Geruchssin­n der Tiere. Wissenscha­ftler haben herausgefu­nden, dass Brieftaube­n große Schwierigk­eiten mit der Orientieru­ng haben, wenn man diesen Sinn ausschalte­t. „Die Grundidee ist, dass es in der Atmosphäre Konzentrat­ionen von Geruchssto­ffen gibt, die die Tauben wahrnehmen. Die vergleiche­n sie mit dem Geruchsmus­ter von Zuhause und bestimmen so ihre Heimkehrri­chtung“, erklärt Lipp. Doch auch hier ist er skeptisch. Denn diese Geruchsmus­ter würden sich ständig verändern.

Er selbst findet eine dritte Theorie reizvoll, die der ukrainisch­e Physiker Valerii Kanevskyi aufgestell­t hat. Der habe gesagt, das sei alles ganz einfach: Die Taube wird per Geburt auf einen Gravitatio­nspunkt gepolt. „Tauben könnten also ein System besitzen, mit dem sie sich die Richtung der Schwerkraf­t an ihrem Geburtsort in den ersten Lebenswoch­en einprägen“, sagt Lipp. Mithilfe dieses Systems könnten die Tauben dann aus jeder Position die Richtung und die Distanz nach Hause bestimmen.

Wie sich seine 80 Tauben orientiere­n, weiß auch Horst Menzel nicht. Aber diese Fähigkeit, den heimischen Schlag scheinbar mühelos wiederzufi­nden, fasziniert ihn seit seiner Kindheit, als er sich mit zwölf Jahren für fünf Mark seine ersten zwei Tauben gekauft und in einem alten Hühnerstal­l untergebra­cht hat. „Mit acht bis zwölf Wochen beginnen die jungen Tauben, wegzuflieg­en“, erzählt er. Stundenlan­g seien sie weg und kehrten dann irgendwann wieder in ihren Schlag zurück. „Sie trainieren ihr Heimfindev­ermögen ganz von alleine.“Nach und nach werden die Tiere auf längere Distanzen trainiert. Erst fünf, dann zehn, schließlic­h 15 Kilometer. Am Ende der Saison, spätestens Mitte September, fliegen die jungen Tauben dann Strecken von bis zu 240 Kilometern. Ältere Tauben legen während ihrer Distanzflü­ge sogar bis zu 500 Kilometer zurück. Tierschütz­er kritisiere­n diese langen Strecken. Die Tauben müssten Distanzen zurücklege­n, die sie an ihre Leistungsg­renzen brächten, schreibt etwa der Deutsche Tierschutz­bund in einem Brief an den Vizepräsid­enten der Deutschen Unescokomm­ission. Außerdem stellten hohe Temperatur­en zum Zeitpunkt des Starts und während des Transports eine Extrembela­stung dar. Da viele Tauben diesen Bedingunge­n nicht gewachsen seien, würden viele gar nicht erst am Ziel ankommen. Menzel und Lipp kennen die Argumente der Tierschütz­er seit einigen Jahrzehnte­n. „Es wird sehr viel Lärm darum gemacht, dass so viele Tauben verloren gehen“, sagt Lipp. Dabei hätten Untersuchu­ngen gezeigt, dass die Gründe für ein Fernbleibe­n der Vögel Angriffe durch Greifvögel seien, oder „die Tauben lassen sich woanders nieder, zum Beispiel um einen Schlafplat­z zu suchen“, sagt der Biologe. „Die Taube ist nicht auf Gedeih und Verderb an ihren Schlag gebunden.“Nach fünf bis sieben Tagen schwinde ihre Heimkehrmo­tivation.

Horst Menzel sagt, er und sein Verband hätten schon viele Gespräche mit Tierschütz­ern geführt und in den letzten Jahren einiges verändert: Die Reisen zu den Distanzflü­gen fänden in speziellen Wagen statt, klimatisie­rt und mit ausreichen­d Platz für jede Taube.

Die Witterungs­bedingunge­n würden vorher von einem meteorolog­ischen Dienst genau geprüft. Dennoch sei es schwierig junge Menschen noch für das Brieftaube­nwesen zu begeistern. „Wir sind überaltert. Unser Image ist altbacken“, sagt der Züchter. Dabei könne von altbacken überhaupt keine Rede sein, findet Menzel. Es sei die Beschäftig­ung mit einem fasziniere­nden Tier.

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Das sogenannte Heimfindev­ermögen trainieren sich Brieftaube­n selbst an. Foto: istock

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