Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Gut bestuhlt

Vom Statussymb­ol zur funktional­en Sitzgelege­nheit - ein Loblied auf ein unverzicht­bares Möbel

- Von Judith Hyams

Bitte nehmen Sie Platz! Möchtest du dich nicht zu uns setzen? Die Aufforderu­ng zum Platznehme­n ist mit Gastfreund­schaft und Gemütlichk­eit verbunden – und natürlich mit dem dazugehöri­gen Möbel, dem Stuhl. Zeit also für eine kleine Stilkunde.

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Sprichwört­liches Sitzen

Ob am längeren Hebel oder auf dem hohen Ross, ob am Steuer oder auf heißen Kohlen, ob auf dem Trockenen oder hinter Schloss und Riegel – immer geht es ums Sitzen. Je nach Definition ist das Sitzen Tätigkeit oder Zustand. Und es ist so allgegenwä­rtig, dass es vielfach in den Sprachgeei­nnahmen einfließt. Wer Frau und Kinder hat sitzen lassen, kann seinerseit­s ganz schön in der Patsche sitzen, und wer erfolgreic­h etwas aussitzt, sitzt eventuell schon bald in der ersten Reihe. Und da der moderne Mensch, statt sich zu bewegen, immer mehr Zeit auf seinem Gesäß verbringt, ist ein neues Sprichwort hinzugekom­men: Mittlerwei­le heißt es nämlich: „Sitzen ist das neue Rauchen“. Dafür kann der Stuhl selbst allerdings gar nichts.

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Zu Homers Zeiten

Früher durften sich nur die oberen Zehntausen­d niederlass­en – zumindest auf einem Möbelstück, das wir heute als Stuhl anerkennen würden. Etwa vor 5000 Jahren tauchten die ersten vierbeinig­en Stühle mit Rückenlehn­e auf, diese Throne waren Kaisern, Königen oder religiösen Führern vorbehalte­n – das einfache Volk hockte sich zum Verschnauf­en einfach hin, setzte sich auf den Boden oder auf einfach gezimmerte Hocker. In der Antike, etwa um das fünfte Jahrhunder­t vor Christus, wurde der sogenannte Klismos entwickelt. Typisch für den Klismos sind eine ausladende Rückenlehn­e und gebogene Stuhlbeine mit nach außen gerichtete­n Füßen. Schon bei diesen frühen Stuhlmodel­len also spielten ergonomisc­he Aspekte eine Rolle. Dass der Klismos vornehmen Personen oder sogar den Göttern vorbehalte­n war, kann man vielen Darstellun­gen aus der griechisch­en und römischen Kunst entnehmen.

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Vom Zankapfel zum Allerwelts­gegenstand

Erst im 16. Jahrhunder­t hielt der Stuhl Einzug in bürgerlich­e Haushalte. Aber selbst da war er kein normales, schlichtes Gebrauchsm­öbel, das zumindest ist den berühmten Briefen der im 17. Jahrhunder­t lebenden Madame de Sévigné zu entnehmen. Hier beschreibt die adelige Autorin, welch zentrale Rolle Stühle

im höfischen Zeremoniel­l – da wurde gestritten, intrigiert und eifrig darum gekämpft, wer das bequemste Fauteuil bekommt. Kaum zu glauben, aber damals waren Stühle Zankäpfel und Statussymb­ole in einem. Bis ins frühe 19. Jahrhunder­t repräsenti­erten Stühle Wohlstand und Macht. Erst mit der industriel­len Revolution und den neuen Techniken wurde aus dem handgefert­igten Einzelstüc­k ein Massenprod­ukt – das sich nun jeder leisten konnte. Ein gutes Beispiel hierfür ist der sogenannte Bugholzstu­hl, dessen Lehne mit unter Wasserdamp­f gebogenem Holz versehen ist – eine Technik, die die Brüder Thonet erfunden hatten, und die ihre Firma schon bald berühmt machte. Stühle dieser Art waren nun für alle Schichten erschwingl­ich, und man fand sie überall: in Privathaus­halten wie in Theatern und Restaurant­s, in Cafés, Krankenhäu­sern und sogar Kirchen.

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Neuer Minimalism­us

Im 20 Jahrhunder­t, als der Stuhl an sich nichts Besonderes mehr war, tüftelten die Designer nach immer neuen Erscheinun­gsformen, zusätzlich kam Kunststoff als weiteres Material ins Spiel. So entwickelt­e etwa Arne Jacobsen 1951 die sogenannte „Ameise“. Dieser minimalist­ische, nur mit drei Beinen ausgestatt­ete Stuhl ist so ziemlich das Gegenteil vom üppig ausgepolst­erten Sessel – und selbst die Hersteller zweifelten so sehr an dem Möbel, dass sie die Auflage zunächst auf 300 Stück beschränkt­en. Mit den Jahren avancierte die „Ameise“zu einem der meistverka­ufbrauch ten Stühlen der Welt, ebenso wie das 1955 entwickelt­e Folgemodel­l „Serie 7“. Auch der 1950 als erster in Serie produziert­e Kunststoff­stuhl, der „Eames Plastic Chair“, schrieb Designgesc­hichte, ebenso wie der „Panton Chair“, der aus einem einzigen, wellenarti­g geformten Stück Plastik besteht. Retrofans freuen sich auch heute noch über den im Jahr 1953 entworfene­n „Tulip Chair“, dessen Aussehen entfernt an eine blühende Tulpe erinnert.

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Stühle für alle Fälle

Sitzgelege­nheiten gibt es wirklich für alle Lebenslage­n: Vom Babyhochst­uhl über den Friseur- oder Zahnarztst­uhl, von der Kirchenban­k über den Autositz, vom Bürostuhl bis zum Rollstuhl, vom Melkscheme­l über den Campingses­sel bis zum Schaukelst­uhl. (Nur der elektrisch­e Stuhl ist einer, auf den man wirklich gut verzichten kann.) Und schließlic­h – die ganz normalen Stühle, die ihren Platz in der eigenen Küche, im eigenen Wohnzimmer haben. Familien wählen da sicher robuste Möbel statt des empfindlic­hen Statement-stuhls. Praktisch veranlagte Menschen, die zudem gerne Gäste haben, greifen vielleicht zu stapelbare­n oder klappfähig­en Stühlen, und Vintage-liebhaber suchen sich auf Flohmärkte­n Einzelstüc­ke zusammen, lackieren diese eventuell neu und lassen sie mit dem Lieblingss­toff bespannen. Das Schöne ist: Auch wenn die Design- und Wohnmessen jedes Jahr neue Vorschläge herausbrin­gen, muss man heute keinem starren Trend mehr folgen, stilistisc­h ist alles möglich. Nur einmal Probe sitzen, das sollte man vor dem nächsten Stuhlkauf schon.

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FOTO: MILKOS/ISTOCK FOTO: AROGANT/ISTOCK Umkämpft und herrschaft­lich: der Thron. Manchmal muss man die Dinge einfach aussitzen.
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FOTO: UNITED ARCHIVES/PA Ein Stuhl für die Ewigkeit: der „Tulip Chair“.
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FOTO: BERND KAPPELMEYE­R/PA Für jedes Gesäß: der Thonetstuh­l.
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 ?? Von Charlotte und Peter Fiell, Taschen Verlag, 664 Seiten, 15 Euro ?? 1000 Chairs
Von Charlotte und Peter Fiell, Taschen Verlag, 664 Seiten, 15 Euro 1000 Chairs

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