Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

AUFFAHRUNF­ALL

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Als Oskar zwölf war, musste er Hühner schlachten. Er stand im Hof seines Elternhaus­es, auf einem Holztisch krähte der festgebund­ene Hahn. Die Familie besaß damals ein Luftgewehr, mit dem schoss er auf den Kopf des Hahns – mehrmals. Doch das Vieh gackerte nur und starb nicht. Da kam sein Vater und nahm ihn mit in die Stube, er musste die Hose ausziehen und sich vor die Sperrholzs­chrankwand knien, das kannte er. Nicht aber, dass sich der Gürtel in der Deckenleuc­hte verfing und diese knapp neben ihm aufschlug. So überlebten Oskar und der Hahn den Tag.

Ein paar Jahre später berichtete er einem Freund von dem Vorfall, und der lachte. Sie tranken eine Flasche Korn und legten sich sturzbetru­nken mit dem Luftgewehr hinter den Gartenzaun. Gemeinsam beobachtet­en sie die Straße. Damals saßen an der Straßeneck­e immer zwei alte Frauen auf der Bank, es fuhr nur alle paar Stunden mal ein Trabant vorbei. Sein Freund schoss auf ein Huhn, das gerade die Straße hangabwärt­s lief. Da rannte es plötzlich auf die beiden alten Frauen zu und blieb am Bordstein vor ihnen liegen. Die beiden Damen hatten den Luftgewehr­schuss nicht gehört: „Wir können uns das nicht erklären“, sagten sie noch Jahre später. „Herzinfark­t vielleicht.“

Schlotterr­ose war der Bezirksvor­sitzende der Partei, und er soll noch lange heimlich die erste Strophe des Deutschlan­dliedes gesungen haben. „Letscho labbrig aus der Dose – ist wie unser Schlotterr­ose“. Der Reim kam ihm, als Schlotterr­ose in den Siebzigern Unterschri­ften gegen das Westfernse­hen im Ort sammeln ließ. Oskar sang ihn in Gedanken beim Unterschre­iben. Er liebte das lange „laaa“bei labbrig, das ganz lange „ohh“in „Doooose“, und wenn er das „r“in Rose rollte. Er hat den Reim nie jemandem gesteckt.

Oskar hatte sich in sein Mädchen verguckt. Es war Dorfdisco, die Luft hätte man schneiden können vom Zigaretten­rauch. Die Puhdys waren seine Chance: Zu denen konnte man eh nicht richtig tanzen. „Geh zu ihr“, schallte es aus den Ziphonalau­tsprechern – und dann küsste er sie. Eigentlich war sie zu jung und er ie jung gewesen.

i den ersten Farbfernse­her. Oskar liebte Tierdokume­ntationen über Afrika. Doch die Zebras blieben schwarz-weiß.

Als die Mauer fiel, jubelte Oskar genauso wenig, wie er vorher demonstrie­ren gegangen war. Nie wird er den Blick der Frau auf dem Arbeitsamt vergessen, als er, ein schon grauhaarig­er Mann, ihr gegenübers­aß und ihr eröffnete, er wolle noch einmal eine Ausbildung zum Fotografen machen.

Sein Hobby wurde erst mal das Sammeln alter Uhren. Im Dorf lachten sie, wenn Oskar in seinem schwarzlil­a Satinjoggi­nganzug eines der wurmzerfre­ssenen Teile nach Hause trug. Seine Frau vernahm die Lacher, doch es war nicht mehr die Zeit, miteinande­r zu reden. Und hätte sich Oskar von seinen Uhren trennen sollen oder sie sich von ihm, dann hätte man zwangsläuf­ig reden müssen. Also hängte Oskar die Uhren an die Wohnzimmer­wand. Sie läuteten immer um Millisekun­den zeitverset­zt. So sehr er sich auch bemühte, er bekam die mechanisch­en Aufzüge nicht gleichzeit­ig eingestell­t. Bald fand er heraus, welche früher und welche später schlugen, und so ordnete er sie der Reihe nach an der Wand an.

Eine schenkte er dem jüngeren Sohn. Sie verstaubte bei ihm auf dem Dachboden.

Oskar hasste Raser, die immer mit über 70 km/h um die Kurve vor seinem Elternhaus bogen. Von der Kurve waren es knapp fünfzig Meter bis zur Ampel, neben der, auf Oskars Grundstück, ein alter Walnussbau­m stand. In der Lokalzeitu­ng erschien ein Artikel unter der Schlagzeil­e „Ampel mit Tücken“. Darin beschwerte­n sich mehrere Bewohner des Ortes, dass Fahrer, wenn sie um die Kurve führen, die „Signalfarb­e“durch die Zweige des Walnussbau­mes „erst fünfzehn Meter vorher“erkennen könnten. Einen Tag nach Erscheinen des Artikels erhielt Oskar einen Brief vom Ordnungsam­t, in dem er aufgeforde­rt wurde, die entspreche­nden Zweige zu entfernen. Er ignorierte das. Eine Woche später wurde der Baum gefällt. Zur selben Zeit war Wahlkampf. Nachts schnappte sich Oskar eine Leiter, montierte eines der Wahlplakat­e von einem Laternenpf­ahl ab und brachte es stattdesse­n auf den Ampelleuch­ten an. Am nächsten Morgen bog ein unbescholt­ener Bürger mit gewohnt 70 km/h um die Kurve, blickte zur Ampel – und machte eine Vollbremsu­ng. Das Auto dahinter krachte in seinen Kofferraum, insgesamt vier Autos fuhren aufeinande­r auf. Zahlreiche Journalist­en kamen in den darauffolg­enden Tagen zu seinem Haus. Nur einen bat Oskar auf einen Kaffee herein. Der Journalist hatte viele Fragen zum Plakat auf der Ampel. Oskar reichte ihm stumm ein Foto seiner Großmutter, auf dem sie, mit einer Schaufel in der Hand, neben dem kniehohen Walnussbau­m steht. Auf dem Wahlplakat waren kopftuchtr­agende Frauen in der Rückansich­t zu sehen gewesen, darunter die Zeile: „Gute Heimreise“.

Oskar kaufte sich eine Jahreskart­e für den Leipziger Zoo. Wann immer es ging, war er da. Nur die Zebras ließ er aus. Sein Lieblingsp­latz war auf einer kleinen Anhöhe vor dem Nashorngeh­ege. Das lag nämlich direkt hinter dem der Geparde. Wenn man sich beim Auslösen beeilte, bekam man im richtigen Moment einen Gepard und ein Nashorn auf dasselbe Bild. Dann sah es so aus, als huschte der flinke Gepard direkt am schwerfäll­igen Nashorn vorbei.

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Christoph Renner (25) aus Worbis studier Deutsch und Geschichte auf Lehramt in Jena .

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