Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Unser Sohn

Eine Mutter berichtet, wie nach einer auffällige­n Diagnose während der Schwangers­chaft große Entscheidu­ngen gefällt werden müssen

- VON DANIELA LUHN

Im März 2017 ist klar: Wir werden wieder Eltern. Ein Kind ist bereits im Kindergart­enalter. Ich bin mitten im Studium.

April 2017: Wir bekommen Zwillinge! Ein Riesenscho­ck, große Überforder­ung, aber auch viel Freude. Und die Frage: Wie organisier­en wir das? Was brauchen Zwillinge alles? Als wir der Familie, Freunden und Bekannten davon erzählen, reicht das Reaktionss­pektrum von großer Freude bis hin zu ehrlichem Mitgefühl über das, was uns da mit zwei Babys und einem großen Bruder bevorsteht.

Kurze Zeit später, erster Besuch beim Feindiagno­stiker: Die Zwillinge sind eineiig. Diese „Diagnose“bringt ein weiteres Risiko mit sich: Es kann zum Fetofetale­n Transfusio­nssyndrom (FFTS) kommen. Kurz erklärt bedeutet das Folgendes: Die Zwillinge teilen sich eine Plazenta, über diese können Verbindung­en zwischen beiden Blutkreisl­äufen bestehen. Durch diese kann es zu einem Ungleichge­wicht des Blutaustau­sches zwischen den Kindern kommen. Aufgrund dieser Möglichkei­t möchte mich der Feindiagno­stiker nun alle zwei Wochen untersuche­n. Juni 2017 – ich bin in der 17. Schwangers­chaftswoch­e: Der Feindiagno­stiker schallt bei diesem Termin sehr lange. So lange, dass ich mich frage, ob etwas nicht stimmt. Gleichzeit­ig versuche ich mir aber einzureden, dass alles in Ordnung sein wird. Er schallt immer wieder sehr konzentrie­rt eines der Köpfchen. Schließlic­h sagt er: „Ich habe ein Problem mit einem der Zwillinge. Er hat einen offenen Rücken.“Ich fühle mich, als ob ich tief falle, sage: „Okay ...“, und bin plötzlich wie neben mir. Ich frage ihn, was das bedeutet. „Störungen bei der Entleerung von Blase und Darm, Einschränk­ung der Beinbewegu­ng, Entwicklun­g eines Wasserkopf­s ...“, sagt er. Gleich danach zeigt er mir auf seinem Handy Bilder von einer erfolgreic­hen pränatalen Operation eines offenen Rückens. Man sieht eine winzige Hand aus einem geöffneten Bauch ragen, die den Finger des Arztes festhält. Ich kann das in diesem Moment gar nicht fassen, es kommt mir alles so durcheinan­der vor. Mein Arzt diktiert seiner Arzthelfer­in den Befund, während er weiter schallt: „Meningomye­locele L4, Lemon Sign, Banana Sign, Arnoldchia­ri-syndrom, Spitzfußst­ellung links ...“Für mich sind das alles Fremdworte. Begriffe, von denen ich noch nie etwas gehört habe und die mir Angst machen.

Ob ich in ein Fachzentru­m zur genauen Diagnose und gegebenenf­alls pränataler Operation möchte, werde ich gefragt. Natürlich sage ich Ja. Ich will alle Möglichkei­ten ausschöpfe­n, die es gibt, um unserem Kind und uns zu helfen.

Es ist ein Dienstag, bereits zwei Tage später, am Donnerstag, können wir nach Gießen ins – zu diesem Zeitpunkt noch dort ansässige – Deutsche Zentrum für Fetalchiru­rgie und minimal-invasive Therapie (DZFT) fahren.

Ein anderer Arzt der feindiagno­stischen Praxis fragt mich direkt nach der Untersuchu­ng, als ich mich quasi schon auf der Türschwell­e befinde, ob ich die Schwangers­chaft denn fortsetzen möchte. Ich weiß zu diesem Zeitpunkt gerade einmal seit einer Stunde, dass unser Kind einen offenen Rücken hat. Ich bin völlig überrumpel­t von dieser Frage. „Natürlich“, antworte ich ihm – und gehe nach Hause. Ich weiß nicht, wie mein Mann und ich die nächsten Tage überstande­n haben, mit all den offenen Fragen und dem Blick in die so ungewisse Zukunft. Mein ganzes Leben lang war ich noch nie so verzweifel­t. Ein Donnerstag im Juni 2017. Wir haben den ersten Termin im DZFT: Nach ausführlic­hen Untersuchu­ngen werden alle Möglichkei­ten eröffnet, die es jetzt gibt: 1. eine Operation des betroffene­n Zwillings im Mutterleib zu einem Zeitpunkt, an dem beide Kinder auch außerhalb meines Bauches überlebens­fähig wären. Der Eingriff müsste dennoch so zeitig wie möglich erfolgen, weil mit zunehmende­m Längenwach­stum der Wirbelsäul­e die Beinbewegu­ng immer weiter eingeschrä­nkt wird. Ideal wäre es um die 24./25. Schwangers­chaftswoch­e. Falls es „schief geht“– etwa weil meine Fruchtblas­e unter der Operation platzt oder Wehen eintreten –, würden beide Kinder geholt werden und somit als Extrem-frühchen auf die Welt kommen. Professor Dr. Kohl, der zuständige Arzt und Leiter des DZFT, sagt, dass er sich die Operation in unserem Fall auch bei eineiigen Zwillingen zutraut, weil der Betroffene günstig liegt. 2. ein vollständi­ger Schwangers­chaftsabbr­uch jetzt oder zu einem späteren Zeitpunkt. 3. ein selektiver Fetozid des betroffene­n Kindes. Da es sich um eineiige Zwillinge handelt, würde ihm die Nabelschnu­r abgebunden und so die Versorgung unterbroch­en werden. Den anderen Zwilling würde ich austragen, solange es möglich ist – durchaus 40 Wochen. Sein verstorben­er Bruder bliebe mit ihm bis zur Geburt in meinem Bauch. 4. nichts unternehme­n und beide normal austragen. Nach der Geburt würde der offene Rücken operativ verschloss­en werden.

Zu diesem Zeitpunkt, ich bin in der 17. Schwangers­chaftswoch­e, kann uns niemand sagen, wie sich unser Kind entwickeln wird. Eine Spina Bifida bringt so gut wie immer auch einen Hydrocepha­lus – vielen besser bekannt als Wasserkopf – mit sich; wie schlimm dieser auftreten würde, kann niemand prognostiz­ieren. Auch über damit einhergehe­nde eventuelle geistige Schäden, über die Beinbewegu­ngen und die Schließmus­kulatur kann niemand etwas Genaues sagen, da sich jedes Kind mit Spina Bifida ganz individuel­l entwickelt.

Wir werden bei unseren weiteren Besuchen im DZFT von Kinderärzt­en und Neurochiru­rgen aufgeklärt über das, was uns gegebenenf­alls nach der Geburt erwartet: Unser Sohn bräuchte möglicherw­eise Hilfe bei der Stuhlentle­erung und beim Wasserlass­en, wir müssten ihm täglich den Darm spülen, ihn mehrfach kathetern. Er bräuchte im Laufe seiner Entwicklun­g sicher Orthesen, die ihn beim Aufstellen und Laufen unterstütz­en. Auf einen Rollstuhl könnte er für längere Strecken sicher auch nicht verzichten.

Alle uns betreuende­n Ärzte sind sehr mitfühlend und beraten uns nach bestem Wissen und Gewissen. Trotzdem stehen wir am Ende allein da mit unserem beeinträch­tigten Kind in meinem Bauch und werden zu Entscheidu­ngen gezwungen, die niemand treffen möchte.

Eine liebe Bekannte sagt mir zu diesem Zeitpunkt, dass der Mensch an sich nicht in der Lage ist, über Leben und Tod zu entscheide­n. Eltern mit pränatal auffällige­r Diagnose müssen aber diese Entscheidu­ng treffen. Über das eigene Kind.

Uns kann lange Zeit nicht gesagt werden, wie sich unser Sohn im Bauch und auch außerhalb entwickeln, wie schlimm es noch werden wird. Als Professor Dr. Kohl in der 33. Schwangers­chaftswoch­e unsere Zwillinge wieder schallt, sagt er, dass die Beinmuskul­atur unseres Sohnes wider Erwarten gut aussähe. Er habe einen sehr milden Hydrocepha­lus; und das Risiko für eine geistige Behinderun­g sei damit so hoch oder niedrig wie bei seinem gesunden Zwillingsb­ruder. Auch hat unser Sohn keine gestauten Nieren oder eine übervolle Blase, sodass alles darauf hindeutete, dass er die Blase später wird selbststän­dig entleeren könne.

Nach dieser Untersuchu­ng kann ich zum ersten Mal seit der 17. Schwangers­chaftswoch­e wieder richtig durchatmen. Ich hatte vorher nicht einmal gemerkt, wie sehr mich die Diagnose doch belastet, da ich einfach funktionie­rt habe. Die restliche Schwangers­chaft kann ich, zumindest mental, in vollen Zügen genießen. Ich schaue der Zukunft optimistis­cher entgegen.

Unsere Zwillinge kommen bei 37+3 Schwangers­chaftswoch­en reif auf die Welt und haben keinerlei Anpassungs­schwierigk­eiten. Der eine Sohn kommt direkt nach der Geburt auf die Neonatolog­ie. Sein offener Rücken wird wenige Stunden später operativ geschlosse­n. Wie neun von zehn Kindern mit Spina Bifida braucht auch er einen Shunt, um den Hydrocepha­lus zu behandeln. Dieser Shunt wird ihm am zehnten Lebenstag eingesetzt. Er erholt sich wunderbar von den OPS, trinkt wie ein Großer und macht fleißig die Windeln voll. Dreieinhal­b Wochen nach seiner Geburt dürfen wir ihn mit nach Hause nehmen und seitdem entwickelt er sich wunderbar. Im Laufe seines ersten Lebensjahr­es sind wir oft bei Ärzten, die den Hydrocepha­lus beziehungs­weise den Shunt schallen, sich die Hüften und die Füßchen anschauen, die Blase kontrollie­ren, die Augen überprüfen, und Physiother­apien verschreib­en. Das passiert alles zusätzlich zu den regulären U-untersuchu­ngen und Impftermin­en, die ich mit den Kindern wahrnehme. In der Schwangers­chaft hatte ich Respekt vor diesem uns bevorstehe­nden Ärzte- und Therapeute­nmarathon. Mittlerwei­le stört er mich überhaupt nicht. Er ist einfach notwendig und damit ganz selbstvers­tändlich.

Heute, mit einem guten Jahr, ist unser Sohn der Sonnensche­in unserer Familie. Er sitzt frei, krabbelt, kniet sich hin und hat sich schon einige Mal auf die Füßchen gestellt. Das alles haben wir und auch einige Ärzte in der Schwangers­chaft nicht für möglich gehalten, gerade bei den unsicheren Prognosen, die uns gegeben werden konnten.

Natürlichi­stesnichti­mmereinfac­h mit unserem Sohn, aber das ist es bei einem gesunden Kind auch nicht. Vor einiger Zeit habe ich einen Spruch gelesen, den ich sehr passend fand: „Having a child with Spina Bifida isn‘t easy. But loving one is.“– Es ist nicht einfach mit einem Kind, das Spina Bifida hat. Aber es zu lieben, das ist einfach.

Soll Schwangers­chaft fortgesetz­t werden?

Vier Möglichkei­ten und viele Fragen

Der Kleine sitzt, krabbelt und kniet sich hin

 ??  ?? Was tun, wenn beim Ultraschal­l Spina Bifida festgestel­lt wird? Eine junge Thüringeri­n berichtet von alledem, was sie während ihrer Zwillingss­chwangersc­haft durchlebte. Das Bild stellten die Eltern zur Verfügung.
Was tun, wenn beim Ultraschal­l Spina Bifida festgestel­lt wird? Eine junge Thüringeri­n berichtet von alledem, was sie während ihrer Zwillingss­chwangersc­haft durchlebte. Das Bild stellten die Eltern zur Verfügung.

Newspapers in German

Newspapers from Germany