Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Unser Sohn
Eine Mutter berichtet, wie nach einer auffälligen Diagnose während der Schwangerschaft große Entscheidungen gefällt werden müssen
Im März 2017 ist klar: Wir werden wieder Eltern. Ein Kind ist bereits im Kindergartenalter. Ich bin mitten im Studium.
April 2017: Wir bekommen Zwillinge! Ein Riesenschock, große Überforderung, aber auch viel Freude. Und die Frage: Wie organisieren wir das? Was brauchen Zwillinge alles? Als wir der Familie, Freunden und Bekannten davon erzählen, reicht das Reaktionsspektrum von großer Freude bis hin zu ehrlichem Mitgefühl über das, was uns da mit zwei Babys und einem großen Bruder bevorsteht.
Kurze Zeit später, erster Besuch beim Feindiagnostiker: Die Zwillinge sind eineiig. Diese „Diagnose“bringt ein weiteres Risiko mit sich: Es kann zum Fetofetalen Transfusionssyndrom (FFTS) kommen. Kurz erklärt bedeutet das Folgendes: Die Zwillinge teilen sich eine Plazenta, über diese können Verbindungen zwischen beiden Blutkreisläufen bestehen. Durch diese kann es zu einem Ungleichgewicht des Blutaustausches zwischen den Kindern kommen. Aufgrund dieser Möglichkeit möchte mich der Feindiagnostiker nun alle zwei Wochen untersuchen. Juni 2017 – ich bin in der 17. Schwangerschaftswoche: Der Feindiagnostiker schallt bei diesem Termin sehr lange. So lange, dass ich mich frage, ob etwas nicht stimmt. Gleichzeitig versuche ich mir aber einzureden, dass alles in Ordnung sein wird. Er schallt immer wieder sehr konzentriert eines der Köpfchen. Schließlich sagt er: „Ich habe ein Problem mit einem der Zwillinge. Er hat einen offenen Rücken.“Ich fühle mich, als ob ich tief falle, sage: „Okay ...“, und bin plötzlich wie neben mir. Ich frage ihn, was das bedeutet. „Störungen bei der Entleerung von Blase und Darm, Einschränkung der Beinbewegung, Entwicklung eines Wasserkopfs ...“, sagt er. Gleich danach zeigt er mir auf seinem Handy Bilder von einer erfolgreichen pränatalen Operation eines offenen Rückens. Man sieht eine winzige Hand aus einem geöffneten Bauch ragen, die den Finger des Arztes festhält. Ich kann das in diesem Moment gar nicht fassen, es kommt mir alles so durcheinander vor. Mein Arzt diktiert seiner Arzthelferin den Befund, während er weiter schallt: „Meningomyelocele L4, Lemon Sign, Banana Sign, Arnoldchiari-syndrom, Spitzfußstellung links ...“Für mich sind das alles Fremdworte. Begriffe, von denen ich noch nie etwas gehört habe und die mir Angst machen.
Ob ich in ein Fachzentrum zur genauen Diagnose und gegebenenfalls pränataler Operation möchte, werde ich gefragt. Natürlich sage ich Ja. Ich will alle Möglichkeiten ausschöpfen, die es gibt, um unserem Kind und uns zu helfen.
Es ist ein Dienstag, bereits zwei Tage später, am Donnerstag, können wir nach Gießen ins – zu diesem Zeitpunkt noch dort ansässige – Deutsche Zentrum für Fetalchirurgie und minimal-invasive Therapie (DZFT) fahren.
Ein anderer Arzt der feindiagnostischen Praxis fragt mich direkt nach der Untersuchung, als ich mich quasi schon auf der Türschwelle befinde, ob ich die Schwangerschaft denn fortsetzen möchte. Ich weiß zu diesem Zeitpunkt gerade einmal seit einer Stunde, dass unser Kind einen offenen Rücken hat. Ich bin völlig überrumpelt von dieser Frage. „Natürlich“, antworte ich ihm – und gehe nach Hause. Ich weiß nicht, wie mein Mann und ich die nächsten Tage überstanden haben, mit all den offenen Fragen und dem Blick in die so ungewisse Zukunft. Mein ganzes Leben lang war ich noch nie so verzweifelt. Ein Donnerstag im Juni 2017. Wir haben den ersten Termin im DZFT: Nach ausführlichen Untersuchungen werden alle Möglichkeiten eröffnet, die es jetzt gibt: 1. eine Operation des betroffenen Zwillings im Mutterleib zu einem Zeitpunkt, an dem beide Kinder auch außerhalb meines Bauches überlebensfähig wären. Der Eingriff müsste dennoch so zeitig wie möglich erfolgen, weil mit zunehmendem Längenwachstum der Wirbelsäule die Beinbewegung immer weiter eingeschränkt wird. Ideal wäre es um die 24./25. Schwangerschaftswoche. Falls es „schief geht“– etwa weil meine Fruchtblase unter der Operation platzt oder Wehen eintreten –, würden beide Kinder geholt werden und somit als Extrem-frühchen auf die Welt kommen. Professor Dr. Kohl, der zuständige Arzt und Leiter des DZFT, sagt, dass er sich die Operation in unserem Fall auch bei eineiigen Zwillingen zutraut, weil der Betroffene günstig liegt. 2. ein vollständiger Schwangerschaftsabbruch jetzt oder zu einem späteren Zeitpunkt. 3. ein selektiver Fetozid des betroffenen Kindes. Da es sich um eineiige Zwillinge handelt, würde ihm die Nabelschnur abgebunden und so die Versorgung unterbrochen werden. Den anderen Zwilling würde ich austragen, solange es möglich ist – durchaus 40 Wochen. Sein verstorbener Bruder bliebe mit ihm bis zur Geburt in meinem Bauch. 4. nichts unternehmen und beide normal austragen. Nach der Geburt würde der offene Rücken operativ verschlossen werden.
Zu diesem Zeitpunkt, ich bin in der 17. Schwangerschaftswoche, kann uns niemand sagen, wie sich unser Kind entwickeln wird. Eine Spina Bifida bringt so gut wie immer auch einen Hydrocephalus – vielen besser bekannt als Wasserkopf – mit sich; wie schlimm dieser auftreten würde, kann niemand prognostizieren. Auch über damit einhergehende eventuelle geistige Schäden, über die Beinbewegungen und die Schließmuskulatur kann niemand etwas Genaues sagen, da sich jedes Kind mit Spina Bifida ganz individuell entwickelt.
Wir werden bei unseren weiteren Besuchen im DZFT von Kinderärzten und Neurochirurgen aufgeklärt über das, was uns gegebenenfalls nach der Geburt erwartet: Unser Sohn bräuchte möglicherweise Hilfe bei der Stuhlentleerung und beim Wasserlassen, wir müssten ihm täglich den Darm spülen, ihn mehrfach kathetern. Er bräuchte im Laufe seiner Entwicklung sicher Orthesen, die ihn beim Aufstellen und Laufen unterstützen. Auf einen Rollstuhl könnte er für längere Strecken sicher auch nicht verzichten.
Alle uns betreuenden Ärzte sind sehr mitfühlend und beraten uns nach bestem Wissen und Gewissen. Trotzdem stehen wir am Ende allein da mit unserem beeinträchtigten Kind in meinem Bauch und werden zu Entscheidungen gezwungen, die niemand treffen möchte.
Eine liebe Bekannte sagt mir zu diesem Zeitpunkt, dass der Mensch an sich nicht in der Lage ist, über Leben und Tod zu entscheiden. Eltern mit pränatal auffälliger Diagnose müssen aber diese Entscheidung treffen. Über das eigene Kind.
Uns kann lange Zeit nicht gesagt werden, wie sich unser Sohn im Bauch und auch außerhalb entwickeln, wie schlimm es noch werden wird. Als Professor Dr. Kohl in der 33. Schwangerschaftswoche unsere Zwillinge wieder schallt, sagt er, dass die Beinmuskulatur unseres Sohnes wider Erwarten gut aussähe. Er habe einen sehr milden Hydrocephalus; und das Risiko für eine geistige Behinderung sei damit so hoch oder niedrig wie bei seinem gesunden Zwillingsbruder. Auch hat unser Sohn keine gestauten Nieren oder eine übervolle Blase, sodass alles darauf hindeutete, dass er die Blase später wird selbstständig entleeren könne.
Nach dieser Untersuchung kann ich zum ersten Mal seit der 17. Schwangerschaftswoche wieder richtig durchatmen. Ich hatte vorher nicht einmal gemerkt, wie sehr mich die Diagnose doch belastet, da ich einfach funktioniert habe. Die restliche Schwangerschaft kann ich, zumindest mental, in vollen Zügen genießen. Ich schaue der Zukunft optimistischer entgegen.
Unsere Zwillinge kommen bei 37+3 Schwangerschaftswochen reif auf die Welt und haben keinerlei Anpassungsschwierigkeiten. Der eine Sohn kommt direkt nach der Geburt auf die Neonatologie. Sein offener Rücken wird wenige Stunden später operativ geschlossen. Wie neun von zehn Kindern mit Spina Bifida braucht auch er einen Shunt, um den Hydrocephalus zu behandeln. Dieser Shunt wird ihm am zehnten Lebenstag eingesetzt. Er erholt sich wunderbar von den OPS, trinkt wie ein Großer und macht fleißig die Windeln voll. Dreieinhalb Wochen nach seiner Geburt dürfen wir ihn mit nach Hause nehmen und seitdem entwickelt er sich wunderbar. Im Laufe seines ersten Lebensjahres sind wir oft bei Ärzten, die den Hydrocephalus beziehungsweise den Shunt schallen, sich die Hüften und die Füßchen anschauen, die Blase kontrollieren, die Augen überprüfen, und Physiotherapien verschreiben. Das passiert alles zusätzlich zu den regulären U-untersuchungen und Impfterminen, die ich mit den Kindern wahrnehme. In der Schwangerschaft hatte ich Respekt vor diesem uns bevorstehenden Ärzte- und Therapeutenmarathon. Mittlerweile stört er mich überhaupt nicht. Er ist einfach notwendig und damit ganz selbstverständlich.
Heute, mit einem guten Jahr, ist unser Sohn der Sonnenschein unserer Familie. Er sitzt frei, krabbelt, kniet sich hin und hat sich schon einige Mal auf die Füßchen gestellt. Das alles haben wir und auch einige Ärzte in der Schwangerschaft nicht für möglich gehalten, gerade bei den unsicheren Prognosen, die uns gegeben werden konnten.
Natürlichistesnichtimmereinfach mit unserem Sohn, aber das ist es bei einem gesunden Kind auch nicht. Vor einiger Zeit habe ich einen Spruch gelesen, den ich sehr passend fand: „Having a child with Spina Bifida isn‘t easy. But loving one is.“– Es ist nicht einfach mit einem Kind, das Spina Bifida hat. Aber es zu lieben, das ist einfach.
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Der Kleine sitzt, krabbelt und kniet sich hin