Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Kompromissloser Sucher nach der Wahrheit
Zum 100. Geburtstag von Alexander Solschenizyn
ERFURT. Alexander Solschenizyns Gulag-niederschriften „Ein Tag aus dem Leben des Iwan Dennisowitsch“und „Der Archipel Gulag“waren mit die wichtigsten Bücher über die Verbrechen des Stalinismus und gegen seine Verklärung durch westdeutsche Linke. Der gleiche Solschenizyn wurde nach seiner zwangsweisen Ausbürgerung im Westen erst verehrt, dann aber mehr und mehr zum Feindbild. Den Gründen dafür ging vor dem heutigen 100. Geburtstag eine Diskussionsrunde nach, zu der die Fdp-nahe Friedrich-naumann-stiftung „Für die Freiheit“in den Kubus der Gedenkstätte Andreasstraße in Erfurt eingeladen hatte.
Während seines fast 20-jährigen Exils in den USA habe Solschenizyn schließlich bei vielen im Westen Aversionen ausgelöst habe, sagte Birgit Harreß, Professorin am Institut für Slawistik der Universität Leipzig. „Man störte sich an seinen direkten, ehrlichen Antworten und an seiner christlich-orthodoxen Weltanschauung, die ihn von seinem Physikerkollegen Andrej Sacharow unterschied. Man verfälschte ihn und dichtete ihm erfundene Interviews an. Solschenizyn war ein gerader, authentischer Mensch, der sich bei der kompromisslosen Suche nach der Wahrheit von niemandem korrumpieren ließ. Das nahmen ihm viele übel“, so Harreß. So habe der Schriftsteller auch die Euphorie der Entspannungspolitik Anfang der 1970er-jahre nicht mitgetragen. Schlimmstenfalls stempelte man den Russen als Antisemiten abt, was er aber nie gewesen sei.
Die Leipziger Germanistikprofessorin Ilse Nagelschmidt verwies darauf, dass anders als im Westen, wo Solschenizyns in Millionenauflage verbreiteter und nachgefragter „Archipel Gulag“vielen die Augen über die Verbrechermaschinerie der Zwangslager öffnete, das Buch im Osten von den Offiziellen zur Unliteratur erklärt wurde. „Wir wussten aus den Medien von Solschenizyns Buch. Zoll und Stasi versuchten, die Einfuhr zu verhindern, was nicht vollständig gelang. Die Brutalität der Gulags demaskierte den Bruderstaat und erzeugte Wut und Ohnmacht“, so Nagelschmidt.
Solschenizyns Sowohl-als-auch-biografie – hier der Dissident und Systemkritiker, dort der gläubige Russe und Kapitalismuskritiker – habe nicht in das schematische Entweder-oder-denken des Kalten Krieges gepasst, sagte Claudia Weber, Historikerin und Professorin für Kulturwissenschaften an der Europa-universität Viadrina in Frankfurt/oder. „Solschenizyn unterschied zwischen der Sowjetunion und Russland, das verstand der Westen nicht. Die Geschichte Solschenizyn im Westen war auch eine Ost-westenttäuschungsgeschichte”, so Weber.
Alexander Solschenizyn starb am 3. August 2008 im Alter von 89 Jahren in Moskau nach einem Schlaganfall.