Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Das Innere eines facettenreichen Kristalls
Weimarer Staatskapelle unter Kirill Karabits spielt Werke von Mark-anthony Turnage und Gustav Mahler
WEIMAR. Agil und drahtig, auch politisch hellwach und augenscheinlich kein bisschen lebensmüde stand der britische Komponist Mark-anthony Turnage am Sonntag im Foyer der Weimarhalle. Der erst 58-Jährige betonte denn auch, dass er mit dem „Testament“, das im 4. Sinfoniekonzert der Staatskapelle Weimar seine deutsche Erstaufführung erfuhr, keineswegs sein eigenes komponiert habe. Vielmehr gab ein gleichnamiges Gedicht der ukrainischen Poetenikone Taras Shevchenko dem taufrischen Werk für Sopransolo und Orchester seinen Namen.
Zu erleben war ein trotz seiner Dramatik weitgehend tonales fünfsätziges Opus, das die Kriegswirren im Heimatland des ebenfalls aus der Ukraine stammenden GMD Kirill Karabits künstlerisch verarbeitet und beklagt. Und so erschien es folgerichtig, dass die ukrainische Sopranistin Olga Pasichnyk in ihrer Muttersprache sang. Behutsam gestützt und nur selten überdeckt von der Staatskapelle interpretierte sie die von Turnage vertonten, melancholischen Gedichte mit dunkel timbrierter, lupenrein geführter Stimme mit bewegender Intensität.
Im fünften Satz war der Gegenwartsbezug offenkundig: „Nimm mit, was wirklich wichtig ist“lautete der Titel des Poems von Serhiy Zhadan, das den Kriegsflüchtlingen aus dem Donbass gewidmet ist. „We are refugees, we will run all night“, heißt es da, und Mark-anthony Turnage verleiht der Verzweiflung mit dumpfen Paukenschlägen und bohrenden Celli eindrücklich Ausdruck. Chromatisch ranken sich die Streicher um den Sprechgesang der Erzählerin, während Miniatur-motive wie einsame Vogelrufe durch die Holzbläser wandern. Ein leicht dissonantes Tutti, gekrönt von Gong und Glocken, mündet in einen offen gestrichenen Schluss. Er sei schließlich ein „vorsichtiger Optimist“, fasste Turnage seine musikalische Botschaft zusammen, die mit viel Instrumentationskunst und wenig Ehrgeiz für klangliche Neuerungen auskommt.
Den Bogen zu Gustav Mahlers 4. Sinfonie nach der Pause schlug die Sopranistin mit ihrem Wunderhornlied im vierten Satz. Doch zuvor ließ Karabits in den ersten drei Sätzen einen filigranen Mahler aufleuchten, wie ihn Weimar wohl nicht jeden Tag erlebt. Per Röntgenblick analysierte der Dirigent die Partitur, gab jeder Nebenstimme Raum, ließ das Publikum in das Werk hineinblicken wie in das Innere eines facettenreichen Kristalls. Ein ruhiger Puls herrschte, zog der Nervosität Mahlers die Zähne, als ob dem Komponisten noch zu beweisen wäre, was für Schönheit in seinem Werk steckt. Nur im zweiten Satz, mit der um einen Ganzton höher gestimmten Violine Ursula Dehlers, dirigierte Karabits gespenstisch flackernd das Lied vom Tod – als den eigentlichen Wesenskern von Mahlers permanenten Gratwanderungen.
Die Staatskapelle folgte ihrem GMD bereitwillig in diesem luziden Kammerspiel mit einer betörenden Klangkultur, die süchtig macht. Als säße man in einer Andacht, blieb es nach dem Verklingen der letzten Geigentöne lange still.
● Nachzuhören heute, . Uhr, auf Deutschlandfunk Kultur.