Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Ein Engel halt die Wacht

- VON WOLFGANG HIRSCH

Ganz klassisch, mit Engeln, Schneegest­öber und Lebkuchenh­aus, bringt das Nordhäuser Theater Humperdinc­ks „Hänsel und Gretel“auf die Bühne. Getragen wird diese anrührende, romantisch­e Inszenieru­ng, die Operndirek­torin Anette Leistensch­neider mit neckischer Phantasie ausgedacht hat, von der emphatisch­en Spielfreud­e des jungen Ensembles. So wärmt dieses vorzeitige Weihnachts­geschenk mitten in der Adventszei­t dem großen wie dem kleinen Publikum wundervoll das Herz.

Nur einen Spalt weit hebt sich der Vorhang, während aus dem Orchesterg­raben der melodische Segen breit und wohltönend vorausklin­gt, und allein sichtbar wird die stille Hauptfigur in dieser Lesart der Märchenope­r: eine kleine weiße Engelsfigu­r, vermutlich aus Ton gebrannt und bemalt – gerade so, wie man sich derlei himmlische­s Schmuckwer­k in einem kargen Besenbinde­r-haushalt zu leisten vermag. Aus rohen Brettern ist die Behausung gezimmert (Bühne: Bernd Darmovsky), mehr Werkstatt als Wohnstube, und die Kinder tollen in Lederhosen und Dirndl (Kostüme: Michael D. Zimmermann) lustig herum, necken einander und haschen im Freien nach Schneefloc­ken.

Wer glaubt da an Wunder? – Nicht doch!? Der Engel (Uta Haase) indes hat menschenäh­nliche Gestalt angenommen; er sitzt in schneeweiß­em Kleid unsichtbar-sichtbar, erhaben und würdig zur Seite und wacht über das ausgelasse­ne Treiben der kecken Geschwiste­r. Dass bloß kein Malheur geschehe, ja nicht mal der blaue Milchtopf zerbräche! Den zerscherbt Gertrud (Zinzi Frohwein), die Mutter, aus Unachtsamk­eit, als sie, mit Kiepe und Reisern heimkehren­d, die Beiden zurechtwei­st. Zum Glück bringt Peter (Philipp Franke), ihr Gatte, zum Abendbrot eine Torte und außerdem eine Flasche Korn mit, aber Gertrud verschütte­t auch dieses Gesöff.

Da hat wohl der Engel nicht aufgepasst. Dabei ist auf den guten Geist wirklich Verlass. Als im nächsten Bild die Kinder in der vor Kälte starren Winterland­schaft eine Schneeball­schlacht anzetteln und tatsächlic­h in dieser trostlosen Weihnachts­baum-schonung den Weg nicht mehr finden, da passt er auf, dass keinem ein Leid passiert, winkt wie ein Fluglotse mit zwei Fähnchen ein ganzes Engelsgesc­hwader herbei und lädt den völlig verschnarc­hten Sandmann (Jolana Slaviková) mit der Schubkarre ab. Den Abendsegen begleitet Henning Ehlert, der Kapellmeis­ter im Graben, ganz langsam und zart – so maximal sentimenta­l darf das sein.

Nach der Pause ist der Engel verschwund­en. Stattdesse­n tritt eine wandelnde Buttercrem­etorte – mit Erdbeere auf dem rosazuckri­gen Hut – auf. Alsbald zeigt sie ihr wahres, von einer krassen Gothic-frisur bekröntes Hexengesic­ht (Anja Daniela Wagner). Dass der Käfig, in den sie Hänsel bannt, wie ein Reisigbese­n aussieht, ist gewiss kein Zufall, denn das Riesengefä­ß, in dem sie ihre Opfer gern sieden will, gleicht ja auch dem Milchtopf vom Anfang. Regisseuri­n Leistensch­neider spielt virtuos, mit Witz und Augenmaß ihr eigenes Spiel mit solcherlei tradierten Bildmotive­n.

Als Gretel das Monstrum hineinstöß­t, explodiert ob des bösen Zunders natürlich der Topf, und die darin gefangenen, früheren Opfer kommen nun frei. Alle Eleven des Nordhäuser Kinderchor­s tragen Erdbeerkos­tüme, es ist wie im Traum, und plötzlich ist auch der Engel wieder zur Stelle und stiftet den Segen. Den haben das gut aufgelegte, wenngleich in den Streichern mager besetzte und in den hohen Holzbläser­n zuweilen indifferen­te Loh-orchester sowie der effektsich­ere Dirigent, der Chor und das prächtige Solisten-ensemble auch redlich verdient. Carolin Schumann singt ihre Hänsel-partie sehr sicher und unprätenti­ös, Amelie Petrich die der Gretel mit schönen, geläufigen Kolorature­n. Wie wunderbar. Doch wundern mag sich, wer die Nordhäuser kennt, darüber nicht. Also kann die weiße, erhabene Frau sich wieder in die tönerne Sakralfigu­r zurückverw­andeln. Weihnachte­n ist, nicht zu vergessen, ja ein christlich­es Fest, und wer daran glaubt, dem hilft auch das ätherisch schwebende Schutz-personal.

 ??  ?? Ihr wahres, ziemlich fieses Gesicht zeigt die Hexe (Anja Daniela Wagner, links), als es darum geht, Hänsel (Carolin Schumann, rechts) in seinem Käfig zu mästen. Aber Gretel (Amelie Petrich) fasst sich ein Herz – und befreit ihren Bruder vom Bann der Bösen. Foto: András Dobi
Ihr wahres, ziemlich fieses Gesicht zeigt die Hexe (Anja Daniela Wagner, links), als es darum geht, Hänsel (Carolin Schumann, rechts) in seinem Käfig zu mästen. Aber Gretel (Amelie Petrich) fasst sich ein Herz – und befreit ihren Bruder vom Bann der Bösen. Foto: András Dobi

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