Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Ein Engel halt die Wacht
Ganz klassisch, mit Engeln, Schneegestöber und Lebkuchenhaus, bringt das Nordhäuser Theater Humperdincks „Hänsel und Gretel“auf die Bühne. Getragen wird diese anrührende, romantische Inszenierung, die Operndirektorin Anette Leistenschneider mit neckischer Phantasie ausgedacht hat, von der emphatischen Spielfreude des jungen Ensembles. So wärmt dieses vorzeitige Weihnachtsgeschenk mitten in der Adventszeit dem großen wie dem kleinen Publikum wundervoll das Herz.
Nur einen Spalt weit hebt sich der Vorhang, während aus dem Orchestergraben der melodische Segen breit und wohltönend vorausklingt, und allein sichtbar wird die stille Hauptfigur in dieser Lesart der Märchenoper: eine kleine weiße Engelsfigur, vermutlich aus Ton gebrannt und bemalt – gerade so, wie man sich derlei himmlisches Schmuckwerk in einem kargen Besenbinder-haushalt zu leisten vermag. Aus rohen Brettern ist die Behausung gezimmert (Bühne: Bernd Darmovsky), mehr Werkstatt als Wohnstube, und die Kinder tollen in Lederhosen und Dirndl (Kostüme: Michael D. Zimmermann) lustig herum, necken einander und haschen im Freien nach Schneeflocken.
Wer glaubt da an Wunder? – Nicht doch!? Der Engel (Uta Haase) indes hat menschenähnliche Gestalt angenommen; er sitzt in schneeweißem Kleid unsichtbar-sichtbar, erhaben und würdig zur Seite und wacht über das ausgelassene Treiben der kecken Geschwister. Dass bloß kein Malheur geschehe, ja nicht mal der blaue Milchtopf zerbräche! Den zerscherbt Gertrud (Zinzi Frohwein), die Mutter, aus Unachtsamkeit, als sie, mit Kiepe und Reisern heimkehrend, die Beiden zurechtweist. Zum Glück bringt Peter (Philipp Franke), ihr Gatte, zum Abendbrot eine Torte und außerdem eine Flasche Korn mit, aber Gertrud verschüttet auch dieses Gesöff.
Da hat wohl der Engel nicht aufgepasst. Dabei ist auf den guten Geist wirklich Verlass. Als im nächsten Bild die Kinder in der vor Kälte starren Winterlandschaft eine Schneeballschlacht anzetteln und tatsächlich in dieser trostlosen Weihnachtsbaum-schonung den Weg nicht mehr finden, da passt er auf, dass keinem ein Leid passiert, winkt wie ein Fluglotse mit zwei Fähnchen ein ganzes Engelsgeschwader herbei und lädt den völlig verschnarchten Sandmann (Jolana Slaviková) mit der Schubkarre ab. Den Abendsegen begleitet Henning Ehlert, der Kapellmeister im Graben, ganz langsam und zart – so maximal sentimental darf das sein.
Nach der Pause ist der Engel verschwunden. Stattdessen tritt eine wandelnde Buttercremetorte – mit Erdbeere auf dem rosazuckrigen Hut – auf. Alsbald zeigt sie ihr wahres, von einer krassen Gothic-frisur bekröntes Hexengesicht (Anja Daniela Wagner). Dass der Käfig, in den sie Hänsel bannt, wie ein Reisigbesen aussieht, ist gewiss kein Zufall, denn das Riesengefäß, in dem sie ihre Opfer gern sieden will, gleicht ja auch dem Milchtopf vom Anfang. Regisseurin Leistenschneider spielt virtuos, mit Witz und Augenmaß ihr eigenes Spiel mit solcherlei tradierten Bildmotiven.
Als Gretel das Monstrum hineinstößt, explodiert ob des bösen Zunders natürlich der Topf, und die darin gefangenen, früheren Opfer kommen nun frei. Alle Eleven des Nordhäuser Kinderchors tragen Erdbeerkostüme, es ist wie im Traum, und plötzlich ist auch der Engel wieder zur Stelle und stiftet den Segen. Den haben das gut aufgelegte, wenngleich in den Streichern mager besetzte und in den hohen Holzbläsern zuweilen indifferente Loh-orchester sowie der effektsichere Dirigent, der Chor und das prächtige Solisten-ensemble auch redlich verdient. Carolin Schumann singt ihre Hänsel-partie sehr sicher und unprätentiös, Amelie Petrich die der Gretel mit schönen, geläufigen Koloraturen. Wie wunderbar. Doch wundern mag sich, wer die Nordhäuser kennt, darüber nicht. Also kann die weiße, erhabene Frau sich wieder in die tönerne Sakralfigur zurückverwandeln. Weihnachten ist, nicht zu vergessen, ja ein christliches Fest, und wer daran glaubt, dem hilft auch das ätherisch schwebende Schutz-personal.