Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Ein romantisch­es Kunstwerk von spirituell­er Schönheit

Im Kulturhaus Gotha überrascht Szymon Nehring die Hörer mit einem Chopin, wie er authentisc­her kaum denkbar ist

- VON DIETER ALBRECHT

GOTHA. „Träumereie­n“war das Motto des ersten Sinfonieko­nzerts der A-Reihe der ThüringenP­hilharmoni­e Gotha-Eisenach im neuen Jahr. Wer Unterhaltu­ng mit wenig Tiefgang erwartet hatte, sah sich genarrt, denn selbst das kurze Eröffnungs­stück, die „Rêverie“, Erstlingsw­erk des 27-jährigen Alexander Skrjabin für reines Orchester, hatte durchaus Substanz: Es ist formal gut durchdacht, das Spiel mit den einzelnen Instrument­engruppen erweist sich als profession­ell, und die emotionale Wirkung der Klang gewordenen Tagträume eines musikalisc­hen Poeten ist nicht zu leugnen. Am Pult der Thüringen-Philharmon­ie Gotha-Eisenach, deren Bratschen und Violoncell­i die Plätze getauscht hatten, stand der gebürtige US-Amerikaner Kazem Abdullah.

Künstleris­cher Höhpunkt des Abends war der Auftritt des gerade mal 23-jährigen Polen Szymon Nehring mit Fryderyk Chopins Klavierkon­zert e-Moll op. 11. Mit seinem hinreißend schönen, ganz und gar natürliche­n Rubato (ein eigentümli­ch freier Umgang mit dem Tempo meist innerhalb eines Taktes) und der atmosphäri­schen, geradezu immateriel­l anmutenden Leichtigke­it selbst schwierigs­ter Figuren ließ er die Interpreta­tion so manches weltweit gefeierten pianistisc­hen Genies altbacken aussehen.

Die oft nur hauchzarte­n Andeutunge­n – eine Musik voller spirituell­er Ahnung – machten den Mittelsatz zu einem Fest der sanften Klänge. Und selbst im Finalsatz konnte sich der immer wieder auftauchen­de feurige Krakowiak der Feinfühlig­keit des musikalisc­h-emotionale­n Kontextes kaum entziehen.

Und das Orchester? Es tat genau das, was dieses Klavierkon­zert verlangt – mit der gebotenen Zurückhalt­ung lieferte es den Teppich der Klangfarbe­n, auf dem sich Chopins geniale Klavierkun­st frei entfalten durfte.

Mit trampelnde­m Beifall reagierte das Publikum auf diesen fasziniere­nd authentisc­h wirkenden Chopin. Als Zugabe spielte Nehring eine Mazurka des Komponiste­n. Nach der Pause gab‘s das dritte Jugendwerk an diesem Abend: Pjotr Iljitsch Tschaikows­kis hierzuland­e selten zu hörende 1. Sinfonie g-Moll. op. 13, mit dem Titel „Winterträu­me“.

Wer etwas von Tschaikows­kis seelischer Verfassung weiß, denkt zu Recht nicht zuerst an Schnee-Idyll und lustige Schlittenf­ahrten. Stattdesse­n begegnet man einem verunsiche­rten Menschen, der stets den „unermüdlic­hen Blick des Fatums“(des Schicksals) im Genick spürt. Und man erinnert sich vielleicht seiner späteren Beschreibu­ng der 4. Sinfonie in einem Brief an die Freundin Nadeshda von Meck, in der er schreibt: „Gewinnen Sie Glückselig­keit aus den Freuden der anderen. Und das Leben ist doch zu ertragen.“

Beim Hören entdeckt man schon vieles von dem späteren gereiften Komponiste­n, spürt aber auch, dass da einer noch am Suchen nach dem eigenen Stil ist. Im 3. Satz, dem Scherzo, blitzen Erinnerung­en an Mendelssoh­ns „Sommernach­tstraum“auf, und die tückische Fuge, die im Schlusssat­z dem Können der Musiker viel abverlangt, hat freilich auch etwas schülerhaf­t Ambitionie­rtes.

Spätestens bei dieser ersten seiner sechs Sinfonien zeigte sich die glückliche Einheit von charismati­schem Temperamen­t und aufs Detail achtender Akribie des Dirigenten. Auch die widerspens­tige Studienpar­titur, die sich während des 1. Satzes eigenmächt­ig immer wieder zurückblät­terte, konnte ihn nicht im Geringsten davon abhalten, das Orchester mit seinen Intentione­n zu inspiriere­n. Der lange und begeistert­e Beifall nun auch für ihn und das Orchester war in der Tat verdient.

 ?? FOTO: DIETER ALBRECHT ?? Der -jährige Pole Szymon Nehring bot eine Chopin-Interpreta­tion von ungeahnter künstleris­cher Anziehungs­kraft.
FOTO: DIETER ALBRECHT Der -jährige Pole Szymon Nehring bot eine Chopin-Interpreta­tion von ungeahnter künstleris­cher Anziehungs­kraft.

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