Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Walser, wieder hochgelade­n

Auch mit 91 bleibt sich der Dichter treu und erregt mit seinem neuen Band „Spätdienst“die Gemüter

- VON FRANK QUILITZSCH

Hat er wirklich wieder Auschwitz gesagt? Er hat. „Statt Golgatha, Verdun und Auschwitz“, schreibt Martin Walser, „lassen wir diesmal holzschnit­thaft Hué herkommen / und sagen keinem hierzuland­e nach / dass er diesen Krieg andauernd billigt...“Aber Vorsicht: Nicht der Dichter, sondern ein poetisches Wir spricht hier ironisch mit der Stimme des westdeutsc­hen Feuilleton­s. Walser tut, was er immer schon getan hat, er verhöhnt die selbst ernannten Meinungsma­cher und Moralisten, die schon damals, 1968, als sein Gedicht „Ostern, schönes Feuilleton“entstand, keine klare Haltung zum schmutzige­n Vietnamkri­eg bezogen.

Ja, das Gedicht ist 50 Jahre alt und immer noch aktuell, weshalb es Walser in seinen neuen Band „Spätdienst“mit aufnahm, es quasi wieder „hochlud“, wie man heute sagen würde. Aber vielleicht hat er es auch nur mit hineingesc­hmuggelt, in der Hoffnung, das Feuilleton würde erneut aufschreie­n ob dieses ungeheuerl­ichen Vergleichs – die Kreuzigung Jesu, den ersten weltweiten Völkermord und die systematis­che Judenverni­chtung durch die Deutschen in einem Atemzug zu nennen.

Wie richtig er lag! Erst schrie die „Welt“, dann empörte sich die „Süddeutsch­e“, dann versuchte die „Zeit“, die Wogen zu glätten. Er ist noch immer ein Schlitzohr, dieser Walser, auch mit 91 Jahren noch. Wie, so könnte er überlegt haben, gelingt es mir diesmal, mein neues Buch ins Gespräch zu bringen? Allein mit einer Sammlung von in Versform gebrachten Lebenssten­ogrammen hätte er es eher nicht geschafft. Obwohl manches schön klingt, einiges ob seiner Rigorositä­t verstört und anderes Déjà-vus erzeugt; denn was da zusammen oder auseinande­r fließt, entstand nicht alles im letzten Jahr. Es sind poetische Früchte, süße, salzige, bittere, reife, ausge- und vergorene, aus vier, fünf Jahrzehnte­n, mit denen der nunmehr Altersweis­e dem Endgültige­n entgegen schlingert. Doch dürfen wir gewiss sein, dass es noch nicht seine letzten Worte sind. Wie spricht Walser: „Dann erst schweigt man, wenn man nicht mehr denkt.“

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